Krank oder arbeitsfähig? Der Marburger Bund fordert eine Option dazwischen: die „Teil-AU“. Patienten sollen die Möglichkeit haben, weiterhin zu arbeiten, aber nur einige Stunden pro Tag. Gerade psychisch Erkrankte sollen davon profitieren. Nicht alle finden die Idee gut.
Psychische Erkrankungen entwickeln sich laut dem AOK-Fehlzeitenreport 2018 zum gefährlichen Trend. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl an Krankschreibungen in dem Bereich mehr als verdoppelt. Ärzte haben bislang nur zwei Möglichkeiten: Dem Patienten einen „gelben Zettel“ auszustellen oder weiter in die Arbeit zu schicken. Der Marburger Bund bringt jetzt eine dritte Möglichkeit ins Gespräch, die sogenannten Teilkrankschreibungen. Ob es für Patienten förderlich ist „nur halb“ krankgeschrieben zu sein, daran scheiden sich die Geister.
Ginge es nach dem Marburger Bund sollen Ärzte künftig nicht nur Arbeitsunfähigkeit bescheinigen. Rudolf Henke, Chef des Marburger Bundes, kann sich vorstellen, dass Patienten mit psychischen Erkrankungen nur ein paar Stunden pro Tag zur Arbeit gehen. „Ich bin sicher, dass dadurch viele Fälle von längerer Arbeitsunfähigkeit verhindert werden und Patienten ihre Krankheit besser bewältigen können“, erklärt er gegenüber der DPA. „Tagesstruktur und Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen blieben erhalten, die Gefahr einer sozialen Isolation wäre deutlich gemindert.“ Ärzte sollten daher zum Beispiel verordnen können, dass ein Patient vier oder sechs Stunden Schonung bekommt, sagte der Verbandschef. Henkes Vorstoß ist nicht neu. Er greift einen Beschluss des letzten Ärztetags auf. Delegierte hatten den Gesetzgeber aufgefordert, Grundlagen für eine mögliche Arbeitsminderung zu schaffen. „Speziell bei psychischen Störungen, insbesondere den Depressionen, gibt es wiederholt das Problem, dass eine Krankschreibung (...) eher zu einer Verstärkung der Symptomatik führt und bezüglich der Heilung kontraproduktiv ist“, argumentierten die Antragsteller. Oft komme die Angst um den Arbeitsplatz hinzu. Bei Teilkrankschreibungen blieben die Tagesstruktur und der soziale Kontakt zu Kollegen erhalten. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hatte Ende 2015 ähnliche Maßnahmen empfohlen – und zwar für alle Erkrankungen. Doch der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) wollte das heiße Eisen nicht anfassen. Und sein Nachfolger Jens Spahn (CDU) schweigt ebenfalls. Aus gutem Grund: Laut GKV-Spitzenverband steigen die Ausgaben im Bereich des Krankengeldes stetig an. Versicherungen würden sich über eine solche Bremse freuen. Vor den Landtagswahlen 2018 macht in Berlin niemand solche Pulverfässer auf.
Das Thema ist mehr als ein verspäteter Lückenfüller im Sommerloch. AOK-Daten zufolge hatten Ärzte 5,3 Prozent aller Versicherten letztes Jahr krankgeschrieben, was Vergleichswerten aus dem Vorjahr entspricht. Wenig überraschend stehen Atemwegserkrankungen (49,9 Fälle je 100 Versicherte) und Muskel-Skelett-Erkrankungen (34,1 Fälle je 100 Versicherte) als Gründe einer Arbeitsunfähigkeit ganz oben auf der Liste. Mit 11,2 Fällen je 100 AOK-Mitglieder folgen Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen. Anders als bei den erstgenannten Leiden kam es im seelischen Bereich zwischen 2007 und 2017 zu einem 67,5-prozentigen Anstieg. Außerdem waren die Fehlzeiten pro Krankschreibung mit 26,1 Tagen doppelt so hoch als der Schnitt von 11,8 Tagen über alle Diagnosen gemittelt. Krankengeld-Ausgaben für gesetzlich Versicherte © GKV-Spitzenverband
„Teilkrankschreibungen sind eine sinnvolle Idee, ich kann die Einschätzung des Marburger Bundes nachvollziehen“, so Dr. Anette Wahl-Wachendorf im Gespräch mit DocCheck. Sie ist Vizepräsidentin des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW). Ihrer Einschätzung nach braucht es jedoch mehrere Akteure, nämlich den Betriebsarzt, den niedergelassenen Arzt sowie den Unternehmer. Warum? „Manche Tätigkeiten stellen sich in der Praxis nämlich ganz anders dar, als man vermutet. Ein Techniker muss beispielsweise nicht zwangsläufig körperlich arbeiten, er kann auch Vorgesetzter sein oder Aufgaben im Büro haben“, weiß Wahl-Wachendorf. „Im ersten Schritt müssten Hausärzte deshalb Einschätzungen des Betriebsarztes abfragen, diese Verzahnung ist wichtig.“ Ansonsten bestätigt die Expertin, dass Arbeit zur Gesundung beitragen kann. Neben psychischen Erkrankungen nennt sie vor allem Wirbelsäulenerkrankungen. „Der mehrmonatige Ausfall ist für Patienten nicht förderlich.“
Niedergelassene Kollegen sind skeptisch. „Die Beurteilung einer Teilarbeitsfähigkeit halte ich für äußerst schwierig“, so Dr. Hans-Jürgen Bartels, Allgemeinmediziner aus Breuberg, gegenüber DocCheck. Die Erfahrung lehre, dass eine Stundenangabe bei Krankschreibungen nicht möglich sei. „Eine schnellere Genesung halte ich für nicht gegeben“, lautet sein Fazit. Vincent Jörres vom Deutschen Hausärzteverband spricht von einem „gut gemeinten Vorschlag“, welcher „in der Praxis jedoch kaum handhabbar“ sei. Ein solches Modell müsste die jeweilige konkrete Situation am Arbeitsplatz im Blick behalten. Der Arzt müsste in jedem Einzelfall entscheiden, ob die Arbeitsumgebung für den einzelnen Patienten zumutbar sei, oder nicht. Außerdem sieht Jörres die Gefahr, dass Patienten mit Teilkrankschreibung auf Druck ihres Arbeitgebers länger arbeiteten als ärztlich vorgesehen.
Ähnlich skeptisch reagieren Gewerkschaften. Martin Gross von ver.di Baden-Württemberg zufolge seien Arbeitsminderungs-Bescheinigungen – wenn überhaupt – nur auf Wunsch des Arbeitnehmers zu erstellen. Ärztliche Entscheidungen lehnt er ab. „Ich glaube, dass es gut gemeint ist, aber dass Mediziner oft den arbeitsrechtlichen Aspekt, was Arbeitgeber daraus machen können, nicht berücksichtigen“, so Gross im Gespräch mit SWR Aktuell. „Wir haben nach wie vor einige Betriebe, die olympiareife Belegschaften wollen. Da ist der Schutz des Arbeitnehmers wichtiger.“
Bleibt zu klären, ob Henkes These, Patienten würden von Teilkrankschreibungen profitieren, aus psychologischer Sicht stimmig ist. Dr. Sarah Liebherz vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) hat zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die wissenschaftliche Literatur gesichtet. Entstanden ist eine Entscheidungshilfe für Menschen mit seelischen Erkrankungen. Als wesentliche Chancen nennt Liebherz:
Dem stehen einige Risikofaktoren gegenüber:
Liebherz rät allen Patienten, ihre Entscheidung sorgsam abzuwägen. Diese Möglichkeit haben Betroffene bei Teilkrankschreibungen nicht mehr.
Schon heute ist die stufenweise Wiedereingliederung, oft „Hamburger Modell“ genannt, nach längerer Krankheit unter ärztlicher Aufsicht möglich. Die tägliche Arbeitszeit wird dann schrittweise erhöht. Angestellte erhalten Krankengeld oder Übergangsgeld. Sie gelten auch in dieser Zeit als arbeitsunfähig. Nach Oliver Fröhlke, Experte für Wiedereingliederungs-Management bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), kennen viele Arbeitnehmer dieses Programm allerdings gar nicht nicht. „Sogar Ärzte sind oft schlecht informiert“, so Fröhlke. Ob es neue Formen der AU braucht, bleibt fraglich.