Es ist eine der brisantesten medizinischen Debatten der letzten Monate: Sollte man Methadon in Kombination mit Doxorubicin gegen Tumoren einsetzen? Die Labordaten einer Chemikerin scheinen vielversprechend. Die meisten Experten raten jedoch von Methadon ab.
Bereits im Sommer berichteten wir über den Hype um Methadon. Die Chemikerin Dr. Claudia Friesen vom Universitätsklinikum Ulm hat 2008 In-vitro-Daten zur Wirksamkeit von D,L-Methadonhydrochloride gegen humane Leukämiezellen (CEM und HL-60) publiziert. Ursprünglich wollte man untersuchen, welchen Einfluss Drogen auf eine Krebserkrankung haben. Die Forscherin beobachtete dann wiederholt, dass das Opioid in Kombination mit Doxorubicin die Leukämiezellen abtötete. 2013 folgten In-vitro-Daten mit sehr ähnlichem Outcome in chemo- und radioresistenten Glioblastomzelllinien (U118MG und A172), sowie 2014 eine Publikation, die die Leukämiezell-Resultate im Mausmodell bestätigte. Besonders der doppelte Synergismus zwischen Methadon und Chemotherapeutikum mache die Therapie so erfolgreich. Methadon erhöhe nicht nur die Aufnahme des Medikaments, sondern verhindere auch, dass es durch sogenannte Multidrug-Transporter aus der Krebszelle ausgeschleust wird. Claudia Friesens Studien stießen auf hohe Resonanz: Für die Zusammenfassung in der Deutschen Zeitschrift für Onkologie erhielt die Wissenschaftlerin vom NATUM e.V. (Arbeitsgemeinschaft für Naturheilkunde, Akupunktur, Umwelt- und Komplementärmedizin in der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) den „Forschungspreis Komplementärmedizin 2017“.
Bei den vielen Medienbeiträgen zu den vielversprechenden Ergebnissen fehlt jedoch oftmals die nötige journalistische Sachlichkeit. Es wird ein bedenkliches Misstrauen gegenüber der Schulmedizin publik gemacht, das einen nahezu verschwörungstheoretischen Charakter aufweist. Da Methadon nicht mehr patentfähig ist, ist das Opioid extrem billig. Laut eines umfangreichen Berichts des ARD Wirtschaftsmagazins plusminus kostet eine Therapie nur wenige Cent am Tag. Die geldgierige Pharmalobby wird demnach als Schuldiger für fehlende klinische Studien ausgemacht und Methadon-Ablehner Prof. Dr. Wolfgang Wick der Universität Heidelberg wegen Sponsorenverträgen denunziert. Auf diesen Zug sind nicht wenige andere Redaktionen aufgesprungen. In einer aktualisierten Version werden nun die Warnungen der Fachgesellschaften in Frage gestellt. Wegen Zuwendungen von Pharmaunternehmen seien sie nicht unabhängig. Konkrete Beweise für Bestechlichkeit liefert plusminus nicht. Sabine Kloske, eine Patientin, wird oft in den TV-Beiträgen vorgestellt. Vor über zwei Jahren wurde bei ihr ein Glioblastom diagnostiziert. Das schnelle Wachstum des Tumors und die hohe Rückfallquote machen diese Erkrankung so dramatisch. Nach vollständiger Entfernung prophezeiten ihr die Ärzte, dass der Tumor schnell wiederkommen würde und sie maximal noch 15 Monate zu leben habe. Bis heute ist sie tumorfrei und lebt. Sie selbst führt das eindeutig auf die Einnahme von Methadon zurück. Frau Dr. Friesen hat über 350 Fälle dokumentiert, bei denen sich Tumorerkrankungen mit Methadon drastisch verbessert haben. Das motiviert andere schwer an Krebs erkrankte Menschen ebenfalls Methadon einzunehmen. Die Nachfrage ist seit den Medienberichten enorm gestiegen. Frau Friesen hat über 40.000 Anfragen aus aller Welt erhalten. Prof. Dr. Jutta Hübner, Onkologin vom Universitätsklinikum Jena, findet: „Man könnte darüber allenfalls in Forscherkreisen miteinander diskutieren, aber damit in die Öffentlichkeit zu gehen und Patienten aktiv zu empfehlen, sich eine Substanz zu besorgen die nicht ungefährlich ist, dass ist ethisch absolut nicht akzeptabel.“
Jeder Arzt kann das starke Schmerzmittel Methadon verschreiben. Nur möchten es die meisten nicht, weil sie kaum Erfahrungen mit Methadon als Krebsmittel haben. Valide prospektive klinische Studien gibt es bisher nicht. Fallbeispiele reichen nicht, um daraus eine allgemeingültige und vor allem sichere Anwendbarkeit von Methadon ableiten zu können. Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie, die Deutsche Gesellschaft für Neurologie und die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin lehnen den experimentellen Einsatz von Methadon wegen der fehlenden wissenschaftlichen Belege am Menschen ab. Zweifel gibt es auch daran, dass sich die Labordaten 1:1 übertragen lassen. Der Arbeitskreis Tumorschmerz der Deutschen Schmerzgesellschaft konstatiert unter der Überschrift „Labor ist nicht gleich Klinik“: „ In der Vergangenheit ist eine mögliche Hemmung der Tumorzellproliferation auch in Bezug auf weitere Opioide, NMDA-Rezeptor-Antagonisten, Lokalanästhetika oder andere Substanzen untersucht und publiziert worden, ohne dass eine Übertragung der In-vitro-Ergebnisse auf die Klinik gelang.“ Selbst der Arbeitgeber von Frau Friesen, die Uni-Klinik Ulm, hat eine Stellungnahme gegen Methadon verfasst und mittlerweile sogar jegliche Informationen von der Homepage gelöscht. Sie unterstütze jedoch „nachdrücklich die Durchführung klinischer Studien“.
Die Menschen, die nur noch wenige Monate zu leben haben, wollen auf die nötigen Studien nicht warten. Wenn Methadon seit Jahren als Schmerzmittel zugelassen ist, kann es doch nicht so schlimm sein, denken sie sich. Die Betroffenen unterstützen sich gegenseitig mit Arztkontakten, bilden Selbsthilfegruppen auf Facebook wie „Wir unterstützen die Methadon-Forschung von Dr. Friesen gegen Krebs.“ Ein Eintrag aus den letzten Monaten lautet: „Nach etlichen Anlaufschwierigkeiten einen Arzt für Methadon zu finden, hat ein befreundeter Arzt von Freunden unsere Hausärztin per Telefon überzeugen können. Wir dürfen uns heute Nachmittag das Rezept abholen. Ich bin sooo erleichtert!“ Die lebensbedrohlichen Nebenwirkungen des Opioids wie Herzrhythmusstörungen, Atemstillstand und Kreislaufversagen werden ausgeblendet. Dazu trägt auch eine Studie der Charité Berlin bei. Lediglich 27 Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungsstadien wurden darin retrospektiv ausgewertet. Kann das repräsentativ sein? Wohl kaum. Trotzdem nutzen Medien diese eine Untersuchung, um zu zeigen wie nebenwirkungsarm Methadon angeblich sei. Die Patienten haben kaum mehr als Übelkeit und Verstopfung, heißt es beispielsweise beim NDR. Einer der Autoren, Peter Vajkoczy, betont jedoch, dass der Fokus der Studie auf der „Verträglichkeit und Praktikabilität des Methadoneinsatzes bei einer zusätzlichen Chemotherapie“ lag und dass die Heterogenität der 27 Fälle nur „anekdotische Aussagen zulasse.“ Die Gefahr einer Überdosierung ist groß. Methadon hat eine lange inter- und intraindividuelle Halbwertszeit zwischen 15 und 60 Stunden. Am Anfang der Einnahme kann es so zu verzögerten Nebenwirkungen kommen und durch zu schnelle Dosissteigerung zum Tode. So berichtet es Prof. Hübner im Fall einer 57-jährigen Patientin. Diese nahm eigenmächtig ohne Kenntnis des Onkologen l-Polamidon ein und war am 3. Tag nach Ersteinnahme zyanotisch. Am 4. Tag wurde sie nicht ansprechbar aufgefunden. Reanimationsversuche blieben erfolglos. „Andere Todesursachen wie Herzinfarkt und so weiter sind ausgeschlossen, die Symptomatik war die einer Opiatüberdosierung“, erklärt Prof. Hübner auf unsere Anfrage. In diesem Fall ist das Experiment schief gegangen. Die Patientin war schneller gestorben, obwohl sie länger leben wollte.
Frau Dr. Friesen bekam 2009 für Experimente mit Methadon und Hirntumoren 300.000 € von der Deutschen Krebshilfe. Dann stellte sie 2013 einen neuen Antrag: „Opioide sensitivieren Ovarialkarzinome für konventionelle Therapien“. Dieser wurde unter anderem wegen Kritik am verwendeten Zellmodel abgelehnt. Man hat Dr. Friesen zudem erklärt, dass es innovativer wäre Methadon im Rahmen einer klinischen Studie zu untersuchen. „Ihr wurde somit deutlich signalisiert, dass die Förderung einer klinischen Studie, beispielsweise zur Glioblastom-Therapie mit Methadon, durch die Deutsche Krebshilfe grundsätzlich möglich ist.“ Ein solcher Antrag wurde nicht gestellt. Dr. Friesen begründet es damit, sie könne als Chemikerin keine Studie am Menschen beantragen. Mittlerweile hat Prof. Wick aus Heidelberg mit Kollegen anderer Universitäten eine klinische Phase-I/II-Therapiestudie zu Glioblastomen beantragt. Frau Dr. Friesen ist dabei im wissenschaftlichen Komitee. Verträglichkeit und Wirksamkeit von Methadon sollen untersucht werden. Zwei Patientengruppen sollen mit unterschiedlichen Mitteln behandelt werden, um herauszufinden, ob Methadon alleine für die Effekte verantwortlich ist. Frühestens Ende Oktober wird über den Antrag entschieden. Erste Resultate wären dann für 2022 möglich. „Aus dieser Studie wird man allerdings den Wert für Methadon noch nicht sicher ableiten können, sondern allenfalls die Grundlage für eine größer angelegte Folgestudie“, so die Stiftung Deutsche Krebshilfe.