Sehen wir die Welt, wie sie wirklich ist oder wie wir sie haben wollen? Mit dieser Frage haben sich Philosophen und Neurowissenschaftler beschäftigt. Sie beschreiben ein neues Modell für die Wahrnehmung von Objekten auf Basis von Konstruktionsprinzipien.
Bislang gab es zwei Theorien, wie die Wahrnehmung von Objekten mit unseren Begriffen, Vorstellungen, Wünschen und dem Hintergrundwissen zusammenhängt, das wir über die Objekte besitzen. Die eine Theorie besagt, dass die Wahrnehmung eines Objekts durch unsere Begriffe geprägt ist und erst durch diese Begriffe möglich wird. Laut dem zweiten Modell ist ein Wahrnehmungsbild auch ohne Begriffe verfügbar; wir erfassen die Welt, so wie sie ist. Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II der RUB und seine Schweizer Kollegin Petra Vetter schlagen ein neues Modell vor: Wahrnehmungen basieren auf Konstruktionsprinzipien, die evolutionär verankert und somit für alle Menschen gleich sind. Sie werden jedoch gleichzeitig durch Vorstellungen, Erinnerungsbilder, Begriffe und Hintergrundwissen geprägt.
Dass unsere Wahrnehmung von unserem Wissen und unseren Denkprozessen beeinflusst wird, legen Newen und Vetter mit einem einfachen Experiment dar. Zeigt man verschiedenen Personen ein Bild von einem schwarz-weißen Fleckenmuster, können diese darin normalerweise keine Struktur erkennen. Gibt man ihnen jedoch die Information, dass auf dem Bild eine Kuh dargestellt ist, sehen die Betrachter in demselben Muster eine Kuh — und können auch nicht wieder in den Zustand zurückkehren, indem sie ein bedeutungsloses Fleckenmuster gesehen haben.
Petra Vetter zeigte in Experimenten, dass Hintergrundwissen die primären visuellen Areale moduliert, also die Eingangsstation für Informationen des Sehsinns in der Großhirnrinde. Albert Newen schlägt vor, dass es mehrere Arten gibt, wie das Hintergrundwissen und unsere Begriffe die Wahrnehmung beeinflussen. Dazu unterscheidet er vier Ebenen: die Ebene der primären visuellen Prozesse; die Ebene, auf der ein Wahrnehmungsbild entsteht; die Ebene der visuellen Vorstellung; die Ebene der Begriffe, des Wissens und der Überzeugungen. Laut Newen können alle drei höheren Ebenen die Ebene der primären visuellen Prozesse beeinflussen. Dies wird unter anderem durch systematische Fälle von Wahrnehmungsstörungen untermauert. Originalpublikation: Varieties of cognitive penetration in visual perception Petra Vetter et al.; Consciousness and Cognition, doi: 10.1016/j.concog.2014.04.007, 2014