Viele Menschen leiden unter störenden Ohrgeräuschen. Nicht allen Patienten mit akutem Tinnitus konnte bislang dauerhaft geholfen werden. Eine Studie zeigt nun, dass die neuro-musiktherapeutische Behandlung zu einer deutlichen Verringerung der Symptome führen kann.
Ohrgeräusche kennt fast jeder. Sie tauchen plötzlich auf, verschwinden meistens aber schnell wieder. Bei manchen Menschen setzen sie sich jedoch über Stunden oder Tage in Ohr und Kopf fest. Einige Betroffene kommen damit im Alltag gut zurecht; sie kompensieren die Geräusche. Für andere ist die Belastung so massiv, dass sie noch weitere körperliche und seelische Probleme bekommen. Liegt der Krankheitsbeginn weniger als drei Monate zurück, spricht man von einem akuten Tinnitus. Ursache sind sehr oft Hörstürze und Lärmtraumata; der typische Patient mit dieser Erkrankung ist eine Person mittleren Alters, die beruflich sehr stark unter Stress steht. Mittlerweile versteht man auch immer besser, was bei einem akuten Tinnitus auf neuronaler Ebene abläuft: So haben Wissenschaftler kürzlich nachgewiesen, dass die Neuronen im auditorischen Cortex von Patienten übererregt sind, also viel häufiger und synchroner feuern als bei Personen ohne Tinnitus.
Experten schätzen, dass in Deutschland die akuten Ohrgeräusche jährlich bei etwa über 250.000 Menschen in eine chronische Form übergehen. Damit dies nicht passiert, sollten Betroffene rechtzeitig eine HNO-Praxis aufsuchen, wo sie gemäß der medizinischen Leitlinien behandelt werden. Doch die gängigen Therapien sind nicht bei allen Patienten erfolgreich. Eine neue Methode könnte aber den Patienten helfen, deren Tinnitus trotz medizinischer Erstversorgung weiterbesteht. Wissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung in Heidelberg haben diese in den vergangenen Jahren ursprünglich zur Behandlung des chronischen Tinnitus entwickelt. Die Methode verbindet Elemente der Psychotherapie mit solchen der aktiven und rezeptiven Musiktherapie. In einer kleinen Pilotstudie konnten die Forscher um Miriam Grapp bereits zeigen, dass die neuro-musiktherapeutische Behandlung auch bei Patienten mit akutem Tinnitus zu einer Verbesserung der Symptome führte. Jetzt haben Grapp und ihre Kollegen eine größere kontrollierte Studie beendet, an der insgesamt 42 Patienten mit akutem Tinnitus teilnahmen, denen die medizinische Erstversorgung nicht ausreichend hatte helfen können. Laut Grapp führte die Musiktherapie zu einer Verringerung der subjektiven Tinnitusbelastung um bis zu 85 Prozent. Die Forscher behandelten die Probanden jeweils über fünf Tage. In diesem Zeitraum mussten sich die Studienteilnehmer zwei bis drei Einzelsitzungen pro Tagen unterziehen, in deren Rahmen sie sich mit verschiedenen Aspekten der Erkrankung beschäftigten. So gab es ein Modul, das aus psychotherapeutischen Gesprächen bestand. „Viele Betroffene machen sich zum Beispiel große Sorgen, ob der Tinnitus nun ihr ganzes Leben präsent sein wird“, sagt Grapp, Psychologin und Leiterin der Studie. „Die Gespräche sollten deshalb solche Angst machende Situationen identifizieren und den Patienten helfen, besser damit umzugehen.“
Weitere Module kamen aus dem Bereich der Musiktherapie: Hier versuchten die Forscher um Grapp mit Hilfe eines speziellen Hörtrainings mit Tönen im Bereich der Tinnitus-Frequenz gezielt die Neuronen des auditorischen Cortex anzusprechen. Dafür wurden den Teilnehmern diese Töne auf einem Klavier vorgespielt, die sie dann mit ihrer Stimme nachsingen sollten. „Diese Neuronen sind bei den Patienten viel zu aktiv“, erklärt Grapp. „Durch das Hörtraining können die auffälligen Aktivitätsmuster jedoch verändert und reorganisiert werden.“ Zusätzlich übten die Probanden ein musiktherapeutisches Entspannungstraining: „Sobald die Patienten das beherrscht hatten, wurde das Tinnitus-Geräusch zusätzlich in die Hintergrundmusik eingespielt und so die belastende Situation imitiert“, sagt Grapp. „Die Patienten lernten so, die Kopplung von Tinnitus und körperlicher Erregung, die sich oft hoch schaukelt, zu durchbrechen.“ Um Veränderungen der Krankheitssymptome zu erfassen, mussten alle Patienten vor und nach der Behandlung einen speziellen Tinnitus-Fragebogen ausfüllen. Die Forscher teilten die 42 Patienten mit einem mittelschweren akuten Tinnitus nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein: 20 Patienten erhielten sofort die neuro-musiktherapeutische Behandlung; unmittelbar davor und danach erfolgte eine umfangreiche Diagnostik. Die anderen 22 Patienten mussten eine kurze Wartezeit einhalten, an deren Anfang und Ende die Diagnostik stattfand. Erst danach wurden auch diese Patienten behandelt. Zusätzlich unterzogen sich 23 Menschen ohne Tinnitus der Musiktherapie; diese Testpersonen wurden so ausgewählt, dass sie bezüglich Alter, Lebenssituation und Hörvermögen zu den Tinnitus-Patienten passten.
Da Grapp und ihr Team auch wissen wollten, wie sich ihre Methode auf neuronaler Ebene im Gehirn der Studienteilnehmer auswirkte, erstellten sie Kernspinaufnahmen vor und nach der neuro-musiktherapeutischen Behandlung. Bei den Patienten der Behandlungsgruppe konnten die Forscher auf den Aufnahmen beobachten, dass die Menge an grauer Substanz im auditorischen Cortex, aber auch in den Gehirnarealen, die mit Aufmerksamkeit und Entspannung verknüpft werden, deutlich zugenommen hatte. Bei den Patienten der Wartegruppe dagegen blieb die Menge an grauer Substanz weitgehend gleich. Interessanterweise zeigte sich auch bei den hörgesunden Personen eine leichte Zunahme der grauen Substanz in den Bereichen des Gehirns, die in Zusammenhang mit der Entspannungsfähigkeit stehen. Die Ergebnisse der Studie sollen noch dieses Jahr in der Zeitschrift für klinische Forschung und in einem internationalen Fachmagazin veröffentlicht werden. Im Moment ist das Deutsche Zentrum für Musiktherapieforschung noch die einzige Facheinrichtung in Deutschland, die das neu entwickelte Verfahren anbietet. Interessierte Ärzte haben dort aber die Möglichkeit, die neuro-musiktherapeutische Behandlung in Weiterbildungsveranstaltungen kennen zu lernen.