Placebos wirken nur, wenn der Patient nichts davon weiß. Schon länger ist diese These widerlegt. Aber möchte der Patient im Zweifelsfall auch ein Präparat ohne Wirkstoff? Eine kleine Studie aus der Schweiz hat die Frage untersucht.
Schon oft haben Placebo-Reaktionen Studienorganisatoren in die Verzweiflung getrieben. Denn häufig reagieren Patienten viel stärker als gewollt auf die Zuckerpille, Salineinjektion (reines Placebo) oder das Präparat ohne die spezifische Wirksamkeit des Analysestoffs (unreines Placebo). Was aber in Studien unerwünscht ist, setzen immer mehr Ärzte in ihrer täglichen Praxis ein, um zumindest kleine Wehwehchen zu kurieren, wenn der Patient eine angemessene Behandlung einfordert. Was halten aber eigentlich die Betroffenen von einer solchen Scheinbehandlungspraxis? Fühlen sie sich getäuscht und lehnen das vermeintlich wirkungslose Medikament ab oder geht es mehr ums „Hauptsache, ich werde wieder gesund“? Das hat eine Studie untersucht, deren Ergebnisse vor kurzem in der Zeitschrift „Swiss Medical Weekly“ erschienen sind. Viele Ärzte sehen sich in einer rechtlichen Grauzone, wenn sie ihrem Patienten nicht genau sagen, dass die Beruhigungstablette bei der harmlosen Erkältung vom physiologischen Aspekt her gar nicht wirken dürfte. Auch das Vertrauen zwischen Arzt und sensiblen Kranken könnte bei dieser unvollständigen Aufklärung in die Brüche gehen.
Mit strukturierten Interviews versuchten Ryan Tandjung und seine Kollegen von der Universität Zürich und einer Schweizer Krankenversicherung, die Meinung von 12 zufällig ausgewählten Frauen und Männern im Durchschnittsalter von 64 Jahren zum Thema „Placebo“ herauszufinden. Fast alle kannten den „Placebo-Effekt“, also eine Wirkung auch ohne den spezifischen Wirkstoff, waren aber der Überzeugung, dass ein solcher Effekt vor allem bei Krankheiten auftrete, bei denen die Psyche am Krankheitsverlauf stark beteiligt wäre, nicht jedoch etwa bei Krebserkrankungen oder Knochenbrüchen. Einige Teilnehmer waren der Meinung, dass es so etwas wie eine „Placebo-Persönlichkeit“ gebe, bei der eine solche Behandlung besser als bei anderen anspreche. Was ist ein Placebo? Die meisten Befragten assoziierten den Begriff mit einem „reinen“ Placebo, einem Präparat ohne pharmakologisch wirksamen Inhaltsstoff, der vor allem über die Psyche wirke. Das Dilemma einer unzureichenden Aufklärung des Patienten konnte aber auch diese Befragung nicht auflösen. Während zwei der zwölf jeglichen Placebo-Einsatz als Betrug ablehnten, stimmte der Rest einer Placebogabe zu, sofern das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient stabil wäre. Immerhin sieben von zehn könnten sich dabei auch mit einer etwas gedehnten Auslegung des Wahrheitsbegriffs zugunsten des Effekts abfinden, wenn etwa der Arzt ihnen sagen würde. „Dieses Präparat hat schon vielen anderen Patienten zuvor geholfen.“
Schon vor drei Jahren hatte eine Studie dieser Arbeitsgruppe die Einstellungen unter knapp 500 Patienten und 300 Allgemeinärzten erfragt. Sieben von zehn Patienten wollten darüber informiert werden, ob sie mit einem unspezifischen Wirkstoff oder gar einer inhaltslosen Tablette behandelt würden. 90 Prozent der Ärzte sehen demnach im Placebo einen therapeutischen Sinn. In Deutschland setzt knapp die Hälfte der Allgemeinärzte reine Placebos mindestens einmal und im Schnitt fünfmal im Jahr ein. Arzneien, die nicht direkt gegen die Beschwerden des Patienten helfen, finden sich noch weit häufiger auf dem Rezeptblock: Im Schnitt rund 20 Mal. Die Studie von Autoren der LMU München aus dem Jahr 2012 bestätigt auch die Umfrageergebnisse von DocCheck unter Ärzten. Rund die Hälfte nutzt den Placeboeffekt in ihrer Praxis und erwartet, dass die Bedeutung von Placebos in der Therapie noch zusätzliche Bedeutung gewinnt. Die Meinung zur „Informationspflicht“ der Behandlung gegenüber dem Patienten: Eher nicht, auch wenn sie sich des Dilemmas, das durch ihre Verschwiegenheit entsteht, zumeist durchaus bewusst sind.
Bei welchem Patiententyp lohnt es sich, Placebos einzusetzen? Eine Studie von Jon-Kar Zubieta und seinem Team von der University of Michigan hat sich mit dieser Frage beschäftigt. Die Zeitschrift „Neuropharmacology“ veröffentlichte vor eineinhalb Jahren die Ergebnisse. Zubieta legte seine Versuchspersonen mit unterschiedlichen Charakterzügen in den PET-Gehirnscanner und maß die Aktivität von Opioid-Rezeptoren bei einem Schmerzreiz und einem (vermeintlichen) Schmerzmittel. Subjektive Aussagen über den Schmerzpegel und der Kortisolspiegel im Blut gaben zusätzliche Auskunft, wie gut das Placebo wirkte. Der ideale Kandidat für die Gabe von Placebos ist demnach altruistisch, resilient und aufrichtig, aber nicht ärgerlich oder gar feindselig gesinnt. ...und bei welchen Krankheiten? Bisher gibt es keine umfangreiche Liste an „placeboempfindlichen“ Krankheiten. Jedoch verdeutlichen einige Zahlen, wie unterschiedlich Placebos etwa in verschiedenen Kulturkreisen wirken. So liegt etwa die placebobedingte Besserungsrate bei Magengeschwüren in Deutschland bei rund 40, in Brasilien nur bei 7 Prozent. Als Antidepressivum bei HIV-Infizierten hat es bei acht von zehn lateinamerikanischen Patienten Erfolg, jedoch nur bei halb so vielen Patienten mit afroamerikanischem und weißem Ursprung. Besonders starke Effekte, so erläutert der Placeboforscher Robert Jütte, gibt es bei allen Krankheiten, die mit Schmerzen zu tun haben. Dort reagieren im Schnitt etwa 40 Prozent der Patienten positiv.
Auch die Bundesärztekammer fördert inzwischen den Einsatz von Placebos unter bestimmten Bedingungen. Wenn etwa der Patient nicht auf die Standardtherapie anspricht oder mit schweren Nebenwirkungen reagiert oder gar keine spezielle Therapie für die betreffende Krankheit existiert, ist die Pille ohne den speziellen Wirkstoff gerechtfertigt. Jedenfalls sollte aber das Placebo nicht zu einer „Verlegenheits-Option“ verkommen und den Patienten „ruhig stellen“. Auch die amerikanische Gesundheitsbehörde spricht sich gegen den Einsatz von Placebos aus, wenn sie nur dem Arzt gerade zweckmäßig erscheinen und „anderen Zwecken als der Gesundung des Patienten“ dienen. Studien bestätigen auch, dass der Placeboeffekt umso höher ist, je mehr der Arzt selbst von der Wirksamkeit des Mittels überzeugt ist. Dabei wirken Placebos sogar dann, wenn der Patient um die Bedeutung ihrer Gabe weiß (DocCheck berichtete).
Ohne die begleitenden Worte des Arztes, auch das zeigen Untersuchungen, wirken Placebos deutlich schlechter als mit der Aufmunterung des Arztes. Somit ist die „Sprechende Medizin“ allein schon ein Heilmittel, das ähnlich wie bei Placebos in Tabletten- oder Spritzenform bestimmte Gehirnbereiche aktiviert und von dort aus zur Heilung beisteuert. Diese Art von Placeboeinsatz ist durchaus nicht auf die Schmerzmedizin beschränkt, sondern verlängert etwa auch das Leben von Patienten mit koronaren Herzerkrankungen, sofern der Arzt erfolgreich auf die Zuversicht des Patienten einwirkt. Dass es beim Einsatz von Placebos auch einmal ganz überraschende Ergebnisse geben kann, zeigt die Geschichte eines Schweizer Herstellers eines neuartigen Lippengels gegen Herpes. Bei einer Studie des Gels mit dem Wirkstoff im Vergleich zum Gel ohne ihn schnitt das vermeintlich wirkungslose Produkt dreimal besser ab. Erklärung der Firma und von Dermatologen der Uni Zürich: Placebo-Effekt oder eine bisher unbekannte antivirale Wirkung der PEG-Salbenbasis bei Lippenherpes. Das Lippengel ohne den Wirkstoff ist inzwischen auf dem Markt und verkauft sich wohl sehr gut.