Anders als alle seine Kollegen nagt der Erreger der Amöbenruhr menschliche Darmzellen praktisch zu Tode, lässt sie dann aber links liegen. Aufgrund dieses für Parasiten einmaligen Verhaltens könnten neue Therapien entwickelt werden.
In Entwicklungsländern gehört Diarrhoe vor AIDS, Tuberkulose und Malaria zu den Haupttodesursachen von Kindern unter fünf Jahren. Die Amöbe Entamoeba histolytica ist Auslöser der Amöbenruhr. Sie gelangt über verunreinigtes Wasser, ungeschältes Obst und rohes Gemüse in den Darm der Betroffenen. Die Folgen sind Bauchkrämpfe, Fieber und schwere, teilweise blutige Durchfälle. Unbehandelt kann die Amöbe auf andere Organe überwandern, Geschwüre auslösen und zum Tod der Infizierten führen.
Nun haben Wissenschaftler erstmals beobachten können, wie sich E. histolytica durch den menschlichen Darm frisst. „Bisher ging man davon aus, dass E. histolytica zunächst an die Darmzellen andockt, diese mit einem toxischen Sekret abtötet und sie dann verspeist“, erklärt Studienleiter William Petri von der University of Virginia, in Charlottesville, USA. Ein derartiges Vorgehen – die Phagozytose – kommt bei Parasiten häufig vor. Doch E. histolytica ist anders. Mikroskopische Beobachtungen zeigten: Die Amöbe frisst menschliche Darmzellen an, während sie noch am Leben sind, und verschlingt ihre Teile dann.
Als „Trogozytose“ wird dieser Prozess bezeichnet (von grichisch „trogo“ = nagen), der bisher nur bei Lymphozyten beobachtet wurde. In der frühen Phase der Immunantwort fangen die antigenpräsentierenden Zellen ein Antigen ein und präsentieren dieses an ihrer Zelloberfläche, wo es von den Rezeptoren auf der Oberfläche von Lymphozyten (B-, T- und NK-Zellen) erkannt wird. Die Lymphozyten verbinden sich mit den antigenpräsentierenden Zellen und extrahieren diese Oberflächenmoleküle zusammen mit Stücken der Zellmembran. Dieser Prozess aktiviert den Lymphozyten, eine spezifische Immunantwort gegen das entsprechende Antigen in Gang zu bringen. Durch das „Annagen“ der Lymphozyten sterben die antigenpräsentierenden Zellen allerdings nicht ab.
Das gegenteilige Phänomen beobachteten die Wissenschaftler um William Petri nun bei der Amöbe E. histolytica. Die Epithelzellen des menschlichen Darms überleben den Nageangriff der Amöbe nicht – nach mehreren herausgenagten Stücken starben sie ab. Und die Wissenschaftler machten noch eine weitere, erstaunliche Entdeckung: Sobald die Darmzelle tot ist, hört die Amöbe auf zu nagen und zieht zum nächsten Opfer. Warum tut sie das? „Die Trogozytose dient der Amöbe offenbar nicht zur Energiegewinnung“, erklärt Petri, und weiter: „Epithelzellen sind verhältnismäßig groß und eng miteinander verbunden, was ihre Verdauung erschwert.“
Als Nahrungsquelle nutzt E. histolytica vermutlich die menschlichen Darmbakterien – eine plausible Erklärung, warum die Amöbenruhr bei einigen Menschen einige Zeit symptomfrei verläuft: Solange sich die Amöben im Darm nur von Bakterien ernähren, bleibt die Darmschleimhaut intakt. Doch wenn E. histolytica einmal angefangen hat zu nagen, ist sie offenbar kaum mehr zu stoppen, wie Beobachtungen der Wissenschaftler zeigten: „Das Annagen von Darmzellen scheint das Verhalten der Amöbe zu verändern“, berichtet Petri. Denn je mehr Zellen eine Amöbe angenagt hat, desto „mordlustiger“ wird sie. „Die Amöbe frisst sich ihren Weg quasi frei, um tiefer ins Gewebe vordringen zu können“, vermutet der Studienleiter, und weiter: „Und im Darm hat der Einzeller dabei relativ leichtes Spiel, denn die Darmwand ist von innen nur mit einer einzigen Schicht Epithelzellen ausgekleidet.“ Neben einem besseren Verständnis der Pathogenese einer Amöbenruhr haben die Beobachtungen der Wissenschaftler auch einen praktischen Nutzen bei der Behandlung oder Prävention der Krankheit. „Erst wenn wir verstehen, wie sich die Amöbe im menschlichen Organismus verhält, können wir neue Targets für Medikamente oder Impfungen finden“, so Petri. In einer Versuchsreihe der Forscher konnten die Mykotoxine Wortmannin und Cytochalasin D die Beißlust der Amöben bereits hemmen und eine Gewebeinvasion verhindern. „Auf Basis dieser Verbindungen könnte ein neuer Wirkstoff entwickelt werden“, so die Forscher. Wäre dieser auch ärmeren Menschen in tropischen Regionen zugänglich, könnten viele Todesfälle vermieden werden.