Forscher konnten nun die geschädigten Nervenbahnen identifizieren, die den häufig vorkommenden Sehstörungen bei Parkinson-Kranken zugrunde liegen. Sie belegten, dass es sich um Störungen in evolutionär alten Teilen des Gehirns handelt, die das ‚blinde Sehen’ ermöglichen.
‚Blindes Sehen‘ ist ein Phänomen, das bei blinden Menschen beobachtet wird, deren Sehrinde im Gehirn geschädigt ist. Bei ihnen gelangen Lichtreize zwar über ihre gesunden Augen und Nervenbahnen ins Gehirn, können jedoch in der geschädigten Sehrinde nicht ins Bewusstsein überführt werden. Es wird angenommen, dass trotzdem ein Teil der Lichtreize über bestimmte Nervenbahnen unbewusst verarbeitet werden kann und zu adäquaten Augenfolgebewegungen führt, ohne die Sehrinde zu benötigen. Dadurch sind diese Menschen trotz ihrer Blindheit in der Lage, richtig einzuschätzen, von wo ein Lichtreiz kommt, ihre Augen unbewusst in die richtige Richtung zu bewegen und auf emotionale Gesichtsausdrücke wie Angst und Gefahr zu reagieren. Dieses System ist bei allen Menschen vorhanden und befähigt uns schnell und unbewusst auf Sehreize zu reagieren – ganz ähnlich wie bei einem Reflex.
Die Wissenschaftler um Dr. Nico J. Diederich, Neurologe am Centre Hospitalier und Forscher am „Luxembourg Centre for Systems Biomedicine“ der Universität Luxemburg, haben nun herausgefunden, dass etliche Sehstörungen der Parkinson-Krankheit genau gegenteilig funktionieren: obwohl die Patienten normal sehen können, bewegen sie die Augen langsamer und haben Schwierigkeiten, ein bewegendes Objekt „automatisch“ mit den Augen zu verfolgen. Außerdem fällt es ihnen schwer, Bilder mit niedrigen Kontrasten zu erkennen und die Gesichtsausdrücke anderer Menschen unterbewusst zu analysieren. Kurz gesagt, sind sie also „blind für blindes Sehen“. Durch dieses neue Erklärungsmodell konnten die Forscher mehr über die Gehirnstrukturen herausfinden, die diesen Sehstörungen zugrunde liegen. Sie belegen erstmals, dass es sich um Störungen im evolutionär alten Teilen des Gehirns handelt, die normalerweise das ‚blinde Sehen’ ermöglichen. Darüber hinaus kommt es bei einem Drittel der weltweit über 5 Millionen Parkinson-Patienten zusätzlich oft zu visuellen Halluzinationen. Oftmals handelt es sich um sogenannte ‚Passage Halluzinationen‘, bei denen der Patient im Augenwinkel Sehreize fälschlicherweise als vorbeihuschende Personen oder Tiere interpretiert. Auch hierbei könnten die selben Nervenbahnen betroffen sein. Die verlangsamten oder inadäquaten Reaktionen auf sich bewegende Objekte beeinträchtigen zudem die Fahrtüchtigkeit der Patienten und schränken sie so weiter in ihrer Lebensqualität ein. „Wir haben alle bekannten Beeinträchtigungen des Sehens analysiert und mit dem Syndrom des ‚blinden Sehen‘ verglichen. Dabei hat sich heraus kristallisiert, dass bei den Sehstörungen der Parkinson-Patienten vornehmlich entwicklungsgeschichtlich alte Sehbahnen gestört sind“, erläutert Diederich. Originalpublikation: Are patients with Parkinson’s disease blind to blindsight? Nico J. Diederich et al.; Brain, doi: 10.1093/brain/awu/094; 2014