Die Bundesärztekammer ist der Auffassung, dass 7 bis 8 Prozent der deutschen Ärzte mindestens einmal im Leben an einer Suchterkrankung leiden. Eine Substanz ist unter dem medizinischen Personal besonders beliebt: Propofol.
Prof. Dr. Christoph Maier und Dr. Johanna Leclerc-Springer publizierten eine beeindruckende Kasuistik einer Propofol-abhängigen Ärztin. Nach einer Mandeloperation bekam die junge Medizinerin von Kollegen Tilidin-Tropfen gegen ihre Schmerzen. Sie genoss die wohltuende Wirkung und entwickelte eine Suchterkrankung. Innerhalb von drei Jahren steigerte sie so ihre Dosis auf bis zu 35 ml Tropfen/Tag. Wegen einer Schwangerschaft wurde das Opioid abgesetzt. Zur Analgesie unter der Sectio erhielt sie per PDA Sufentanil und empfand die euphorisierende Wirkung als angenehm. In der Stillzeit stieg sie wieder auf Tilidin um, diesmal in wesentlich höheren Dosen. „Im Grunde wusste ich, dass ich suchtkrank bin. Ich war jedoch so in der Sucht gefangen, dass ich den Tilidinmissbrauch vor mir selbst rechtfertigte und bagatellisierte“, so die Ärztin. Nach dem Abstillen fand sie in der Klinik eine noch halbvolle Fentanyl-Ampulle, steckte sie ein und injizierte sich das Mittel zu Hause. Bereits nach zwei Monaten spritzte sie sich 1-2 mg Fentanyl/Tag, was 10-20 Ampullen entspricht. Wegen der BtM-Pflicht machte ihr die Beschaffung zunehmend Probleme. Sie stieg deshalb teilweise auf Propofol um und injizierte sich bis zu 50 mg pro Tag. Nach einem missglückten Selbstentzug landete sie auf der Intensivstation und fing danach erneut wieder mit ihrer Propofol- und Tilidin-Medikation an. Erst nach einem erneut lebensbedrohlichen Zwischenfall wurde die zuständige Ärztekammer eingeschaltet. Sie unterzog sich erfolgreich einer Therapie. Bis heute ist sie unter fortlaufender Nachbetreuung und Überwachung durch die Landesärztekammer nicht rückfällig geworden und übt ihren Beruf außerhalb der Anästhesie weiter aus.
Propofol ist zugelassen als kurz wirkendes intravenöses Narkosemittel zur Einleitung und Aufrechterhaltung einer Narkose bei Kindern ab 1 Monat und Erwachsenen. Außerdem zur Sedierung von Erwachsenen bei diagnostischen und chirurgischen Maßnahmen sowie nur bei Erwachsenen ab 17 Jahren zur Sedierung von beatmeten Patienten im Rahmen der Intensivbehandlung. Propofol unterscheidet sich in seinem Aufbau völlig von den Benzodiazepinen, Ketamin, Barbituraten und Etomidat. Propofol bindet im Gehirn an den GABA-A-Rezeptor, der an einen Chloridkanal gekoppelt ist. Propofol öffnet den Kanal und es kommt zu einer Hyperpolarisation und damit zu einem kurzfristigen Ausfall der Nervenzelle. Außerdem reduziert es die Dopaminfreisetzung im Nucleus accumbens. Die Substanz führt dosisabhängig von der Sedierung bis hin zur Bewusstlosigkeit. Die Wirkung tritt nach 25 bis 40 Sekunden ein und hält 4 bis 8 Minuten an. Propofol wirkt nicht analgetisch aber gering antiemetisch. Wird es als Rauschmittel verwendet, schätzt man die beruhigende, entspannende, euphorisierende, sexuell enthemmende und aphrodisierende Wirkung. Die Möglichkeit, dass sexuelle Phantasien unter Propofolgabe auftreten, liegt laut Fachinformationen zwischen 1 zu 1.000 und 1 zu 10.000. Damit handelt es sich um eine seltene Nebenwirkung. Traurige Berühmtheit erlangte Propofol durch den Tod von Michael Jackson, er erhielt das Narkotikum von seinem Arzt als Schlafmittel verabreicht.
Propofol ist an allen anästhesiologischen Arbeitsplätzen vorhanden. Tierexperimentell ist sein Abhängigkeitspotenzial durch Verhaltensexperimente belegt, beispielsweise durch den Nachweis einer erhöhten Selbstapplikationsrate bei Ratten und Meerschweinchen. Bei einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) wurde bei 19 von 210 suchterkrankten Mitarbeitern eine Propofolabhängigkeit erkannt. Von diesen verstarben 38 Prozent gegenüber 19 Prozent der 191 Kollegen, die „nur“ von Opioiden oder Benzodiazepinen abhängig waren. Die Toleranzentwicklung ist bei Propofol enorm, zudem wirkt es nur kurz. Daher wird die Dosis stetig und rasch gesteigert. Nach Fallberichten von Soyka und Schütz kommen einige Betroffene dadurch auf bis zu 100 Applikationen/Tag mit jeweils 10-30 mg Einzeldosen.
In einer Befragung von amerikanischem und deutschem medizinischen Personal wurde Propofol als eines der am häufigsten missbrauchten Anästhetika genannt. Mithilfe einer MEDLINE, EMBASE, Scopus, Cochrane und Internetrecherche wurden Daten von U. Bonnet analysiert, die eine Einschätzung des Abhängigkeitsrisikos von Propofol erlauben. Die acht bisher publizierten klinischen Fallberichte stammen hauptsächlich aus Deutschland und beschreiben ausgeprägte psychische und wenig körperliche Abhängigkeitsmerkmale. Durchschnittlich waren in den Kasuistiken 4,25 von 6 Abhängigkeitskriterien nach ICD-10 erfüllt. Der Konsum von Propofol ist hauptsächlich auf Mediziner oder medizinnahe Berufe begrenzt. Besonders alarmierend ist die hohe Todesrate unter den insgesamt 78 publizierten Fällen von Propofolkonsum. Fast die Hälfte der medizinischen Konsumenten starb am Propofol. Die enge therapeutische Breite übersteigt den „Nutzen“ als Rauschdroge bei weitem. Deshalb ist die Anwendung von Skalen zur Risikoabschätzung des Suchtpotenzials nicht aussagekräftig. Das Problem ist nicht die Sucht, sondern der Tod des Konsumenten.
Ein Forscherteam des BG Universitätsklinikums Bergmannsheil Bochum um Judith Iwunna untersuchte Obduktionsfälle, um einen Überblick über die Häufigkeit von Todesfällen durch Propofol- bzw. Analgetikaabusus zu gewinnen. Im Mai 2012 wurden in Deutschland, Österreich und der Schweiz alle 48 rechtsmedizinischen Institute um das Ausfüllen eines Kurzfragebogens bezüglich Obduktionen mit Verdacht auf Arzneimittelmissbrauch an Ärzten und medizinischem Personal in den letzten 10 Jahren gebeten. Im Falle positiver Rückmeldung wurden telefonisch weitere Einzelheiten wie Beruf, Alter und Geschlecht der Obduzierten, die Auffindesituation, die wahrscheinliche Todesursache und andere forensisch relevante Parameter, soweit verfügbar und datenschutzrechtlich möglich, erfragt. Von den 48 angeschriebenen Instituten antworteten insgesamt 32. Davon berichteten 16 Einrichtungen von mindestens einem Todesfall, bei dem ein Verdacht auf Propofol- bzw. Arzneimittelmissbrauch vorlag. Insgesamt wurden 39 Fälle gemeldet. Betroffen waren 27 Männer und 12 Frauen, davon waren 22 Ärzte und 13 medizinisches Fachpersonal. Von den 39 Fällen wurde der Arzneimittelabusus bei 15 Fällen bestätigt, bei 12 nicht bestätigt, weitere 12 Fälle blieben diesbezüglich rechtsmedizinisch ungeklärt. Als Suizid wurden 71,7 Prozent und als Unfall 23 Prozent der 39 Todesfälle eingestuft. Bei 33 (84,6 Prozent) Todesfällen war Propofol beteiligt, in 9 Fällen sogar ausschließlich. Nach einer Studie von Earley und Finver sind besonders traumatisierte Mediziner und solche mit einer (durchgemachten) Depression in der Anamnese betroffen.
Laut DGAI ergab eine Erhebung aus dem Jahr 2009, dass 451 Narkose-Chefärzte von 310 Kollegen wussten, die im Laufe der zurückliegenden zehn Jahre suchtkrank wurden. Sie nannten jedoch nur die dramatischen Fälle. An einer Überdosis Medikamente waren 53 Mediziner gestorben, gegen die anderen hatten die Kliniken ein Disziplinarverfahren eingeleitet oder die Polizei ermittelte gegen sie. Die Hamburger Ärztekammer war nach eigenen Angaben die erste, die Anfang der 1990er Jahre begann, sich hierzulande mit dem Tabu-Thema „Ärzte und Sucht“ zu befassen. Der damalige Ärztliche Geschäftsführer Dr. Klaus-Heinrich Damm half erkrankten Kollegen, sich in Behandlung zu begeben, woraus im Lauf der Jahre ein besonderes Suchtinterventionsprogramm entstand. Der Vorstand der Bundesärztekammer sieht es als seine Aufgabe an, sich für ein Betreuungskonzept für betroffene Ärzte einzusetzen. Die Ständige Konferenz „Ärztliche Versorgungswerke und Fürsorge“ teilte mit, dass in der Regel eine Kostenübernahme für Rehabilitationsmaßnahmen bei suchterkrankten Ärzten erfolgt. In den Landesärztekammern existieren Ansprechpartner für betroffene Ärzte. In den einschlägigen Drogenforen häufen sich die Anfragen nach Tripberichten und Erfahrungen. Die Szene findet es sympathisch, dass ein Konsum nicht nach dem Betäubungsmittelrecht geahndet werden kann. Die therapeutische Breite von Propofol ist geringer als die von Opiaten, ein Suchtpotenzial ist vorhanden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung sinnvoll, die Substanz unter die BtMVV zu stellen.