Hypertonie, Hypercholesterinämie und Arteriosklerose: Gegen alle drei Krankheitsbilder soll die neue Polypille wirken. Davon erhoffen sich Forscher auch Verbesserungen bei der Compliance. Die Studienlage ist jedoch nicht wirklich rosig. Kein Wunder, dass sich Hersteller momentan eher zurückhalten.
In Deutschland erleiden Jahr für Jahr etwa 280.000 Menschen einen Schlaganfall. Die Zahl an Herzinfarkt-Patienten ist ähnlich hoch. Dahinter stecken drei Krankheitsbilder, nämlich Hypertonie, Hypercholesterinämie und Arteriosklerose. Mittlerweile gibt es etliche Arzneistoffe, um hier zu intervenieren. Das gelingt nicht immer: Einerseits ist der Leidensdruck recht gering. Andererseits sinkt mit der Zahl eingenommener Präparate auch die Therapietreue. „Wir schätzen, dass daher in Europa etwa neun Prozent aller auftretenden Schlaganfälle und Herzinfarkte durch falsch oder zu selten eingenommene Medikamente verursacht werden“, sagt Professor Dr. Peter Baumgart, Chefarzt der Klinik Innere Medizin I am Clemenshospital GmbH in Münster. „Für Deutschland bedeutet dies: Über 25.000 Menschen erleiden einen Schlaganfall oder Herzinfarkt, weil sie ihre Medikamente nicht therapiegerecht einnehmen.“
„Neu sind Polypillen, die zusätzlich zu den Blutdrucksenkern fettsenkende und gefäßschützende Medikamente enthalten“, so Dr. Siegfried Eckert, Kardiologische Klinik des Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeynhausen. „Menschen mit Herzinfarkten, Schlaganfällen und schweren arteriosklerotisch bedingten Erkrankungen müssen so nur eine einzige Tablette einnehmen.“ Vor mehr als zehn Jahren schlug Nichola Wald vom Londoner Wolfson Institute of Preventive Medicine deshalb vor, eine Polypille anzubieten. Das Präparat sollte die halbe Standarddosis eines Statins beziehungsweise dreier Antihypertensiva (zum Beispiel Thiaziddiuretika, Beta-Blocker sowie ACE-Hemmer) enthalten. Hinzu kommen 75 Milligramm Acetylsalicylsäure als Thrombozytenaggregationshemmer und 0,8 Milligramm Folsäure. Das B-Vitamin senkt den Spiegel an gefäßschädigendem Homocystein. Ob diese Supplementation tatsächlich große Effekte zeigt, ist aber fraglich. Teilweise kam es zu weniger Schlaganfällen, während die Zahl an Herzinfarkten unverändert blieb. Wald plante keineswegs, sein Präparat nur Risikopatienten anzubieten. Vielmehr sollten alle Menschen ab 55 regelmäßig eine Polypille schlucken. Ausgehend von seiner Literaturauswertung erwartete der Forscher, dass sich Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 80 Prozent verringern. Er errechnete einen Gewinn von elf Jahren Lebenszeit. Trotzdem hat kein pharmazeutischer Hersteller großes Interesse an dem Konzept.
Das verwundert aufgrund der Datenlage niemanden. Kürzlich hat Mark D. Huffman, Chicago, für die Cochrane Library Ergebnisse einer Metaanalyse veröffentlicht. Über Online-Recherchen fand er neun Phase-II-Studien mit 7.047 Teilnehmern. Das Gesamtcholesterin verringerte sich lediglich um 0,75 mmol/l. Beim systolischen Blutdruck sah die Sache etwas besser aus. Hier reduzierte sich der systolischen Blutdruck um 7,05 mmHg. Dafür zahlen Patienten aber einen hohen Preis. Im Verum-Arm der Studien hatten zusätzliche 55 pro 1.000 Patienten mit Nebenwirkungen zu kämpfen. Und 25 pro 1.000 Personen brachen die Therapie ab. Alun D. Hughes kommentierte die Datenlage in einem Editorial. Seiner Meinung nach wirken entsprechende Präparate kardiovaskulären Risikofaktoren entgegen, aber nicht so stark wie erhofft. „Der weit verbreitete Einsatz von Polypillen ohne Risikoscreening erscheint zweifelhaft, und es gibt erheblichen Widerstand gegen die Medikation breiter Bevölkerungsschichten.“
Simon Thom aus London wählte deshalb einen risikoorientierten Ansatz. Für seine randomisiert-kontrollierte UMPIRE-Studie (Use of a Multidrug Pill In Reducing cardiovascular Events) rekrutierte er in Europa und Indien gezielt 2.004 Patienten mit vaskulären Vorerkrankungen. Sie wurden randomisiert zwei Studienarmen zugewiesen. Die Hälfte aller Probanden erhielt eine Standardtherapie, je nach Krankheitsbild. In der zweiten Gruppe setze Thom eine Polypille ein: 5 mg ASS, 40 mg Simvastatin, 10 mg Lisinopril und 50 mg Atenolol oder 75 mg ASS, 40 mg Simvastatin, 10 mg Lisinopril und 12,5 mg Hydrochlorothiazid. Zu den Resultaten: Simon Thon fand heraus, dass nach Studienabschluss 65 Prozent aller Patienten in der Kontrollgruppe ihre Arzneimittel korrekt einnahmen – im Vergleich zu 86 Prozent mit der Polypille. Das machte sich auch bei Vital- und Laborparametern bemerkbar. Das LDL-Cholesterin lag um 4,4 mg/dl niedriger als bei Patienten mit Standardbehandlung. Und beim Blutdruck wurden 2,6 mmHg weniger gemessen. Aus Patientensicht würde die Polypille weitaus mehr bringen als ein neues Medikament, das nur einen Risikofaktor zum Ziel hat, schreibt der Forscher. Trotzdem gibt es Kritik am Studiendesign. So war keine Verblindung von Ärzten und Patienten möglich – letztere erhielten eine Polypille oder mehrere Einzelpräparate. Für Probanden aus Indien kam als Problem hinzu, dass sie ihre Standardmedikation selbst bezahlen mussten, im anderen Studienarm Polypillen aber kostenlos abgegeben wurden. Finanzielle Aspekte haben ebenfalls Einfluss auf die Compliance.