Kinder, die während einer schweren Infektionskrankheitswelle gezeugt wurden, sind später auch widerstandsfähiger gegen andere Erreger. Das ergaben nun zumindest Forschungsergebnisse am Beispiel von tödlichen Masern- und Pockenepidemien.
Die beteiligten Forscher befassten sich mit tödlichen Masern- und Pockenepidemien in der kanadischen Provinz Québec des 18. Jahrhunderts. Kinder, die dort während der Masernwelle der Jahre 1714/15 gezeugt wurden, starben deutlich seltener am Ausbruch der Pocken 15 Jahre später als Kinder, die vor den Masern gezeugt worden waren. Max-Planck-Wissenschaftler Kai Willführ veröffentlichte die Forschungsergebnisse jetzt zusammen mit Mikko Myrskylä von der London School of Economics and Political Science im Wissenschaftsjournal PLOS ONE. „Wir belegen erstmals für den Menschen, dass Eltern ihre Kinder quasi auf kommende Krankheiten vorbereiten können“, sagt Biodemograf Willführ. „Der Mechanismus kann dabei weder rein genetisch sein, noch ist die entwickelte Resistenz auf einzelne Erreger beschränkt.“ Einen solchen Weitergabe-Mechanismus zwischen Eltern und Kind nennen Wissenschaftler „funktionalen, transgenerationalen Effekt“: Die Eltern, die zum Zeitpunkt der Empfängnis eine erhöhte Belastung durch Masernerreger erlebten, gaben den Kindern nicht nur mehr Schutz gegen diesen einen Infekt mit. Die Abwehr von Erregern funktionierte in der nächsten Generation offenbar generell besser, auch im Kampf gegen andere Krankheiten wie die Pocken.
Der Zeitpunkt ihrer Empfängnis entschied für viele der Kinder während der Pockenepidemie um das Jahr 1730 über Leben oder Tod: Die Wahrscheinlichkeit, an den Pocken zu sterben, lag für während der Masernwelle 1714/15 gezeugte Kinder nur bei einem Siebtel der „normalen“ Sterbewahrscheinlichkeit ihrer Geschwister, die vor dem Masernausbruch gezeugt und geboren worden waren. Der Preis dafür war allerdings hoch: Die Sterblichkeit der während der Pocken so widerstandsfähigen Kinder war in der Zeit zwischen den Krankheitswellen 1714/15 und 1730 dreimal so hoch wie die der gegen Pocken anfälligeren Geschwister. „Offenbar ist das Abwehrsystem der Kinder auf eine Welt mit hoher Erregerbelastung optimiert, wenn sie bei der Zeugung hoch war“, sagt MPIDR-Forscher Willführ. Zu einer Welt mit wenigen Erregern passt es dann aber anscheinend weniger gut und funktioniert schlechter.
„Die Masern können nur während der Zeugungs- und Schwangerschaftsphase einen Anreiz gesetzt haben, den die Eltern dann auf die nächste Generation übertrugen“, sagt Kai Willführ. Denn als die Kinder, die während der Hochphase der Masernepidemie gezeugt wurden, zur Welt kamen, war die Masernwelle schon wieder vorbei – die Erreger also nicht mehr in der Umwelt. Dass die Kinder schlichtweg immun geworden sind, lässt sich ausschließen. Es ist zwar möglich, dass die Mutter ihre eigene Immunisierung durch Antikörper an den Nachwuchs weitergibt. Das funktioniert während der Schwangerschaft über die Plazenta und nach der Geburt über die Muttermilch. Doch diese Abwehr schützt nur vor derselben Krankheit, gegen die auch die Mutter immun war. Das wären im Untersuchungsfall die Masern gewesen. Die Kinder waren aber besonders widerstandfähig gegen eine ganz andere Krankheit, nämlich die Pocken. Die Wissenschaftler konnten die Sterblichkeitseffekte der verschiedenen Krankheiten erstmals trennen, da sie die Lebensverläufe der Kinder jeweils einzeln exakt nachvollzogen und dabei gleichzeitig die Verbindung zu den Geschwistern mit einbezogen. Dazu untersuchten sie für die Geburtsjahrgänge von 1705 bis 1724, wie sich deren Sterblichkeit bis zum Jahr 1740 entwickelte. Die Daten über Geburten und Todesfällen stammen aus Abschriften alter Kirchenbücher, die die historische Bevölkerung geführt hatte. Originalpublikation: Disease Load at Conception Predicts Survival in Later Epidemics in a Historical French-Canadian Cohort, Suggesting Functional Trans-Generational Effects in Humans Kai Willführ et al.; PLOS ONE; DOI: 10.1371/journal.pone.0093868, 2014