In vielen Ländern gehören Genitalverstümmelungen an Frauen zum grausamen Ritual. Nun wurden medizinische Hilfen entwickelt: Im Gespräch mit DocCheck erläutert Privatdozent Dr. med. Dan mon O’Dey, welche Möglichkeiten es heute gibt.
Quelle: privat O’Dey ist Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie sowie Handchirurgie und Leiter des neuen Zentrums für rekonstruktive Chirurgie weiblicher Geschlechtsmerkmale am Luisenhospital Aachen, wo er zum 1. Januar 2015 die Chefarztnachfolge der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie antreten wird. Laut Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind etwa 125 Millionen Frauen in 29 Ländern von Genitalverstümmelungen betroffen. An der Spitze der negativen Weltrangliste steht Ägypten (27,2 Millionen Frauen), gefolgt von Äthiopien (23,8 Millionen), Nigeria (19,9 Millionen) und dem Sudan (12,1 Millionen). Rund 18.000 Betroffene leben Schätzungen zufolge in Deutschland. Sie alle mussten unterschiedliche Eingriffe ertragen. In einer Stellungnahme unterscheidet die WHO vier verschiedene Arten von Genitalverstümmelungen. Beim Typ I erfolgt eine partielle oder komplette Entfernung der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut. Im Gegensatz dazu werden beim Typ II die Klitoris und die kleinen Schamlippen partiell oder komplett entfernt. Eine Exzision der großen Schamlippen kommt teilweise noch mit hinzu. Müssen Frauen zudem eine Verengung der vaginalen Öffnung mit bedeckendem, narbigem Hautverschluss durch das Entfernen, Zusammenheften oder Zusammennähen der kleinen und/oder großen Schamlippen über sich ergehen lassen, ist von Typ III die Rede (Infibulation). Und zu Typ IV zählen Mediziner alle anderen schädigenden Eingriffe, um weibliche Genitalien ohne medizinische Notwendigkeit zu verletzen: Einstechen, Durchbohren, Einschneiden, Ausschaben, Ausbrennen, Verätzen oder Dehnen.
„Die Folgen der weiblichen Genitalbeschneidung sind komplex und nicht nur abhängig vom Schweregrad der Beschneidung“, weiß Dan mon O’Dey. Betroffenen Frauen wird körperliche und seelische Gewalt angetan — zum Teil von Vertrauenspersonen aus der eigenen Familie. O’Dey: „Blutungen und Infektionen können kurz- bis mittelfristig zum Tode führen.“ Langfristig kommt es zu Vernarbungen, vulvo-vaginalen Atresien, chronischen Schmerzen, Miktionsbeeinträchtigungen und Neuropathien. Und ab der Menarche steigt das Infektionsrisiko, weil Blut möglicherweise nicht richtig abfließt. Damit nicht genug: Durch Kohabitationen erleiden Frauen Zerreißungsschmerzen und Blutungen sowie septische Konstellationen. „Abgesehen von diesen größtenteils lebensbedrohlichen Konsequenzen führt das Unvermögen, einen sexuellen Höhepunkt zu erreichen, zu einem unerfüllten Sexualleben und zu einer gestörten sexuellen Entwicklung“, erklärt O’Dey. „Das spätere Bewusstwerden, gegen den freien Willen eine Genitalbeschneidung erlitten zu haben, hat massive psychische Probleme zur Folge, die in eine Identitätskrise münden können.“
Nun wurden medizinische Hilfen entwickelt: „Das Grundwerkzeug zur Rekonstruktion von Körperarealen ist die sogenannte Lappenplastik, auf Englisch flap genannt“, erklärt Dan mon O’Dey. Dabei wird ein gefäßgestieltes Hautareal von der Spenderregion zur Empfängerregion übertragen. „Fortschritte bei der Erforschung von Gefäßarchitekturen haben Einsatzmöglichkeiten für Lappenplastiken in den letzten Jahren erheblich gesteigert und auf sogenannte Perforatorlappenplastiken ausgeweitet.“ Gewebe, die ein definiertes Gefäß aufweisen, gelten als sicherste Varianten. O’Dey weiter: „Plastische Chirurgen sollten stets diejenige Lappenplastik wählen, welche das bestmögliche funktionelle und ästhetische Ergebnis verspricht.“ Rekonstruktive Prinzipien wie Gleiches mit Gleichem zu ersetzen, ästhetische Einheiten zu berücksichtigen und das Narbenbild zu reduzieren, stünden dabei im Vordergrund.
Da bei Genitalverstümmelungen auch Gewebeverluste der Schamlippen respektive Vernarbungen auftreten, muss in schweren Fällen neues Material zugeführt werden. Zu diesem Zweck ist von O'Dey eine Perforatorlappenplastik namens aOAP (anterior Obturator Artery Perforator) flap entwickelt worden, die den "anatomischen Ansprüchen dieser Region weitestgehend gerecht wird“. Entsprechendes Gewebe stammt aus dem Sulcus genitofemoralis unmittelbar neben der Vulva. „Diese Region wurde zur form- und funktionsoptimierten Rekonstruktion der Vulva nach tumorchirurgischen Eingriffen eingehend untersucht und operativ neu erschlossen.“ Die aOAP-Lappenplastik spiegelt das Durchblutungsareal des Ramus anterior arteria obturatoria wider. Über diesen Weg läßt sich das äußere weibliche Genital als ästhetische und funktionelle Einheit rekonstruieren. Darüber hinaus wurden OD-Lappenplastiken (Omega-Domed flaps) entwickelt, um die Klitoris-Vorhaut wieder aufzubauen.
Von entsprechenden Techniken profitieren auch Patientinnen mit vulvärer, intraepithelialer Neoplasie, mit Plattenepithelkarzinomen, mit Schleimhauterkrankungen (Lichen, Pemphigus) oder angeborenen Fehlbildungen (Labiensynechien). Bei tumorchirurgischen Exzisionen oder bei Exzisionen als Folge von Hauterkrankungen entstehen ausgedehnte Gewebedefekte der Vulva. Hier helfen entsprechende Rekonstruktionen. Das Ziel sei es stets, operativ ein Optimum an Form und Funktion zu erreichen, so O'Dey. Patientinnen will der plastische Chirurg damit ihre „körperliche Integrität und seelische Stabilität“ zurückgeben.