Dank ausgefeilter Labortests, CTs oder MRTs entdecken Ärzte kleinste Anomalien im Körper. Ein Paradoxon: Patienten fühlen sich trotz Diagnose nicht immer krank, und mehr Medizin bedeutet letztlich mehr Morbidität. Forscher fordern, sich stärker an Symptomen zu orientieren.
Ist Gesundheit – wie die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert — wirklich „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“, sprich nicht nur das „Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“? Und beschreiben Krankheiten genau das Gegenteil? Manchmal gelingt es Ärzten nicht, Leidensdruck mit ihrer Diagnostik in Einklang zu bringen. Ein Beispiel: Haben Patienten juckende Augen, Atembeschwerden oder Schleimhautreizungen, spricht viel für eine Allergie. Etablierte Tests bleiben ohne Resultat. „Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die Pollen bedingt durch eine chemische Reaktion mit Feinstaub aggressiver werden“, sagt die Allergologin Dr. Utta Petzold. In der Praxis verwenden Kollegen unbelastete Pollenextrakte. Weitaus häufiger beobachten sie genau das Gegenteil — sprich diagnostische Resultate ohne Beschwerden.
Ärzte finden bei Blutuntersuchungen oder bei bildgebenden Verfahren eine Anomalie, obwohl sich ihre Patienten kerngesund fühlen. Das kann beispielsweise ein erhöhter Blutzuckerspiegel, eine Hypertonie oder eine Hypercholesterinämie sein. Betroffenen fehlt das individuelle Krankheitsgefühl, und sie lassen sich nur schwer vom Nutzen einer Behandlung überzeugen. Oft handelt es sich um präventive, in die Zukunft gerichtete Maßnahmen bei bekannten Risikofaktoren. Ein Problem: Im Laufe der letzten Jahrzehnte gab es diverse Richtungswechsel, was für Laien oft den Beigeschmack einer gewissen Willkür hat. So proklamierten amerikanische Fachgesellschaften in ihren Leitlinien zur Cholesterinsenkung die Abkehr von starren Zielwerten.
Diagnosen ohne Symptome sind ein Thema, das viele Fachrichtungen betrifft. Kardiologen sprechen erst von einer Angina pectoris, falls sie Hinweise aus der Koronarangiographie haben. „Problematisch bleibt, dass der technische Befund nicht zwingend das Symptom erklärt“, kritisieret Professor Dr. Thomas Kühlein, Erlangen, zusammen mit Kollegen in einem Übersichtsartikel. „Schließlich gibt es auch positive Befunde in der Koronarangiografie ohne Angina pectoris.“
Bei Krebserkrankungen sieht die Sache nicht besser aus. Das prostataspezifische Antigen (PSA) gilt als Marker für Veränderungen der Vorsteherdrüse: benigne Prostatahyperplasien, Prostatitiden oder maligne Erkrankungen. Wie bei allen Screeningverfahren entdecken Kollegen auch hier Karzinome, die Patienten während ihres gesamten Lebens nie Probleme bereitet hätten. Ob das Ziel, Betroffenen mehr Lebenszeit zu schenken, letztlich erfüllt wurde, bleibt wissenschaftlich umstritten. Tatsache ist, dass Prostatakrebs Jahr für Jahr allein in Deutschland 12.000 Todesopfer fordert. Andererseits waren Männer, die an dem Leiden starben, drei Jahre über der durchschnittlichen Lebenserwartung. Und Patienten jenseits der 50 mit Prostatakarzinom und natürlicher Todesursache verstarben in jedem dritten Fall nicht am Krebs. Finnische Forscher berichten auch, dass es bei 12,5 Prozent aller PSA-Tests zu falsch positiven Befunden kam. Dann folgen Biopsien und im schlimmsten Falle radikale Eingriffe – anstelle von Watchful Waiting-Strategien. Nicht anders beurteilen Onkologen die Situation bei Schilddrüsenkarzinomen. In den letzten 30 Jahren hat sich die Inzidenz papillärer Formen verdreifacht. „Das setzt Patienten therapeutischen Maßnahmen aus, die in keinem Verhältnis zu ihrer Prognose stehen“, schreibt Juan P. Brito, Rochester, Minnesota, in einem Fachartikel.
Orthopäden kennen die Thematik ebenfalls. Manche Patienten haben trotz klarer Befunde aus der Bildgebung kaum Beschwerden. Bei anderen Menschen finden Kollegen jedoch keine Erklärung für deren Schmerzen. Bleiben nur noch vermeintlich degenerative Veränderungen als Verlegenheitsdiagnose. Wissenschaftler haben untersucht, inwieweit evidenzbasierte Empfehlungen in der Versorgung umgesetzt werden. Ihr wenig schmeichelhaftes Fazit: „Hausärzte und Orthopäden setzen häufig — nach Leitlinien beurteilt — unnötige Diagnostik und obsolete Behandlungsmethoden ein, die eine Chronifizierung der Beschwerden des Patienten fördern können.“
Doch es gibt Alternativen. Laut Thomas Kühnlein müssten Ärzte eine gewisse „diagnostische Unsicherheit“ aushalten. Abwendbar gefährliche Verläufe sind auszuschließen. Darüber hinaus tun Kollegen ihren Patienten aber keinen Gefallen, wenn sie mit aller Gewalt nach Diagnosen suchen. Vielmehr sollten symptomhafte Herangehensweisen im Mittelpunkt stehen. Verändert sich das individuelle Empfinden, kann eine neuerliche Untersuchung durchaus sinnvoll sein. Gerade bei multimorbiden Patienten bewährt sich als Strategie, medizinische Interventionen auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Ansonsten führen mehr Diagnostik und mehr Therapie plötzlich zu weniger Lebensqualität.