Ärzte haben heute einen schweren Stand: Sie versorgen Patienten angeblich schlecht und lassen sich von der Pharmaindustrie beeinflussen. Günther Jonitz, Päsident der Berliner Ärztekammer, erklärt, warum für ihn vielmehr falsche politische Entscheidungen an dem Zustand schuld sind.
Als Präsident der Berliner Ärztekammer macht Günther Jonitz seit 1999 Politik für mehr als 30.000 Mediziner. Er kämpft für die Rechte und die Selbstbestimmung von Ärzten. Er kennt die Kleinen und die Großen im Betrieb, er redet auf Empfängen und verhandelt in Hinterzimmern. Als größtes Problem im deutschen Gesundheitswesen sieht Jonitz die diagnosebezogenen Fallgruppen (DRG, Diagnosis Related Groups). Er ist davon überzeugt, dass die Qualität der medizinischen Versorgung im Krankenhaus ernom unter dem System der pauschalisierten Abrechnungen leidet. DocCheck traf den Chirurgen und Standespolitiker in seinem Büro in der Berliner Friedrichstraße. Herr Jonitz, Ärzte haben es heute nicht leicht, ihr Ruf leidet. Sie versorgen angeblich ihre Patienten schlecht, nehmen sich zu wenig Zeit und lassen sich von der Pharmaindustrie bezahlen. Wie kommt das? Nicht Ärzte haben einen schlechten Ruf, vielmehr erleben wir die Industrialisierung der Patientenversorgung. Das bedeutet weniger ärztliche Kapazitäten für die Versorgung von mehr Patienten mit höherem Aufwand in kürzerer Zeit. Die Patienten spüren das. Doch die Ärzte sind unschuldig. Jemand, der seit vielen Jahren im Hintergrund die Weichen der Politik stellt, sagte mir einmal: „Günther, wir müssen die kleinen Krankenhäuser platt machen. Das haben wir mit den DRGs nicht geschafft, dafür brauchen wir jetzt die Qualität.“ Damit sind wir in einem System angekommen, in dem politische Ziele auf dem Rücken von Ärzten, Krankenschwestern und Patienten abgeladen werden. Was kann man dagegen tun? Was die Ärzte brauchen, ist eine wesentlich bessere politische Vertretung und eine wesentlich bessere Öffentlichkeitsarbeit. Ist das nicht genau Ihre Aufgabe? Sicher. Aber wenn sich selbst unsere Standespublikationen nicht mit unseren Presseerklärungen auseinandersetzen, dann kann man sich überlegen, warum. Wir als Ärztekammer Berlin haben immer auf die Probleme, die mit der Einführung der DRGs zusammenhängen, hingewiesen. Es kann keiner sagen, er habe es nicht gewusst. Gegen Fallpauschalen, gegen Bereicherung, für den Impfschutz und für die Ärzte: der Berliner Standespolitiker Günther Jonitz. Warum halten Sie ausgerechnet die Diagnosis Related Groups für das größte Problem im Gesundheitswesen? Die Einführung von DRGs war für mich der Grund, mich in der Standespolitik zu engagieren. Wenn ein neues Gesetz eingeführt wird, das meine Arbeitsbedingungen als Arzt absehbar schlechter macht, dann steigt mein Risiko bei der Behandlung von kranken Menschen. Denn wenn ich aus Kostengründen statt sechs Diensten im Monat acht Dienste machen muss, und ein Patient zu Schaden kommt, dann stehe ich vor dem Kadi, nicht Herr Seehofer, der damals als Gesundheitsminister für die DRG-Einführung verantwortlich war. DRGs wurden ja nicht eingeführt, um die Versorgung zu verbessern, sondern um Druck auf Krankenhäuser auszuüben. Das ist gelungen. Sie unterstützen das Cochrane Institut, die Fallsammlung DIPeX und den Informationsaustausch Healthyskepticsm. Sie sind Mitglied in der AWMF und alternierender Vorsitzender des ÄZQ. Bei alldem ist Ihnen das Thema Patientensicherheit am wichtigsten. Wieso? Aus einem früheren Tabu-Thema, wo man den Mund hält, wenn etwas passiert, und wartet, bis der Ärger über einen hinweg gezogen ist, ist mittlerweile ein Bereich geworden, bei dem man bewusst in die Öffentlichkeit geht, Stellung bezieht und die Ursachen beseitigt. Dass dieses Thema aus der Schmuddelecke herausgekommen ist, dazu haben wir als Ärztekammer Berlin einen großen Teil beigetragen. Jeder Betroffene, gleich ob Arzt oder Pflegekraft, hat die Möglichkeit, auch anonym auf Probleme und Engpässe hinzuweisen. Was läuft denn falsch im Gesundheitssystem? In den sechziger und siebziger Jahren gab es eine gigantische Leistungsexplosion in der Medizin. Es folgte ein enormer Fortschritt in der Behandlung von akuten und chronischen Krankheiten, zugleich war ausreichend viel Geld in den öffentlichen Haushalten, man konnte Krankenhäuser, Arztpraxen und Apotheken bauen. Die Medizin hat sich damals stark in die entsprechenden Subdisziplinen aufgesplittet. Als das Geld knapper wurde, hat die Politik reagiert, aber nur symptomatisch. Sie hat mit den DRGs reine Kosten- und Mengenbegrenzungen eingeführt und damit in der Medizin die Ökonomie über die Qualität gestellt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das eine ist die Qualität der medizinischen Versorgung. Doch wie sieht es aus mit den Arbeitsbedingungen für Ärzte und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben? Viele ärztliche Führungskräfte gehen immer noch davon aus, dass die jüngere Generation, genau wie sie selbst, mindestens 60 bis 70 Stunden in der Woche da ist. Getreu dem Motto: Wer im Krankenhaus arbeitet, ist Teil des Systems, alles andere ist zweit- oder drittrangig. Da spielt die jüngere Ärztegeneration nicht mehr mit. Also muss man an einem anderen Führungsverständnis arbeiten. Zudem ist es eine Frage der Organisation. Der Klinikalltag müsste so ausgebaut werden, dass Halbtagsstellen möglich sind, dass man als Dreiviertel-Oberarzt dennoch Oberarzt bleiben darf und die Arbeitszeit anders organisiert wird, mit mehr Flexibilität im Denken. Das ist leider noch ein langer Weg. Derzeit gibt es immer mehr weibliche Medizinstudenten. Das schlägt sich aber nicht in den Kliniken nieder – woran liegt das? Die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus sind definitiv familienunfreundlich. Das betrifft Ärzte wie Pflegepersonal. Die Krankenhäuser haben zum Beispiel sehr lange gebraucht, um überhaupt Betreuungseinrichtungen für Kinder auf den Weg zu bringen. Dann ist es häufig so, dass Ärztinnen und Ärzte Schwierigkeiten haben, ihr Kind dort unterzubringen, weil die Kapazitäten überlastet sind. Sie gelten als Verfechter des Impfschutzes und wollen für alle Kinder eine flächendeckende Lösung einführen. Wie wollen Sie das umsetzen, auch wenn einige Eltern dagegen sind? Ich persönlich bin für eine Impftpflicht, wenn die Impfung minimale oder marginale Risiken mitbringt. Verpflichtend sollten alle Impfungen gegen Krankheiten sein, die mit lebensbedrohlichen Konsequenzen einher gehen. Das wird in der Politik diskutiert, aber nicht umgesetzt werden, weil alle davor Angst haben, mit irgendwelchen Fundamentalisten zu tun zu haben. Mit freiwilligen Maßnahmen kommt man da nicht besonders weit. Ein eleganter Weg sieht aus meiner Sicht so aus: Wer sein Kind in öffentlichen Einrichtungen wie Kindergärten oder Schulen unterbringen möchte, muss nachweisen, dass das Kind geimpft ist. Das Thema scheint für Sie ein besonderer Aufreger zu sein. Wie kommt das? Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit Ihrem Säugling, der noch nicht geimpft werden konnte, im Wartezimmer eines Kinderarztes. Gegenüber hockt ein siebenjähriges Kind im Vollbild von Mumps, Masern und Röteln, weil seine Mutter findet, das bräuchte es zur Abhärtung. Es ist skandalös, dass diese Frau durch ihre Borniertheit ihrem Kind und anderen Kindern gegenüber, die wehrlos sind, einen Schaden zufügt. Das geht nicht. Das würde man im Straßenverkehr auch nicht zulassen, unter keinen Umständen. Wer glaubt, sein Kind nicht impfen zu müssen, kann es auch im Bobbycar über die rote Ampel schieben, um es gegen den Straßenverkehr abzuhärten. Bei Fortbildungen passiert es immer wieder, dass von der Pharmaindustrie bezahlte Ärzte oder Pharmavertreter als Experten vor Medizinern sitzen, und ihnen gefilterte Informationen geben. Die meisten Ärzte durchschauen das nicht, sondern schreiben fleißig mit. Was kann man Ihrer Meinung nach dagegen tun? Seit Jahrzehnten hat die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen und die Gesundheitspolitik systematisch infiltriert. Sie agiert geschickt mit allen psychologischen Mitteln, den Rest regelt Geld. Wir als Ärztekammer haben das Thema Pharmaunabhängigkeit mit auf den Weg gebracht. Wir haben die Regularien für die Zertifizierung von Fortbildungen neu aufgesetzt und sind mittlerweile sehr strikt. Jede Fortbildung muss einen wissenschaftlichen Leiter haben, der Arzt ist und dafür gerade steht, dass die Produktneutralität gewährleistet ist. Referenten müssen ihre Interessenskonflikte deklarieren. Darüber hinaus bieten wir seit sechs Jahren zusammen mit der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft einen unabhängigen Fortbildungskongress an. Alle Fortbildungen der Ärztekammer Berlin sind frei von Sponsoring durch die Pharma- und Medizinprodukteindustrie. Im Februar nahm DocCheck an einer Fortbildung teil, auf der zwei von fünf Veranstaltungen deutlich erkennbar von der Industrie beeinflusst waren. Es wurde ein Medikament besonders gepriesen und Konkurrenzprodukte schlecht dargestellt. Wir haben jedes Jahr in Berlin rund 14.000 Fortbildungen mit rund 40.000 Referenten, die wir anerkennen. Das bedeutet, dass wir dieses Thema nie durch externe Kontrolle geregelt bekommen werden. Wir haben aber auch einmal Punkte für eine Fortbildung nachträglich entzogen. Das ging bis zum Gerichtsprozess, den wir gewonnen haben. Wir sind in dieser Beziehung also streng, wir halten zumindest dagegen. Wir sind aber darauf angewiesen, dass uns Verstöße der Veranstalter gemeldet werden. Dann gehen wir jedem Einzelfall nach. Braucht man denn überhaupt von der Pharmaindustrie gesponserte Fortbildungen? Die Hersteller bezahlen die großen Kongresse. Und über die Teilnahme an Kongressen kann ich als Arzt in kurzer Zeit nicht nur viel erfahren, sondern auch leicht CME-Punkte sammeln. Ohne Pharmaindustrie gäbe es kaum große Kongresse. Leider ist für viele, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, das Gesundheitswesen keine Frage der Humanität, sondern eine des Profits. Das sieht man an vielen Stellen. Ein Chef eines der größten Medizingeräteproduzenten in Deutschland sagte einmal, gefragt nach seinem Engagement zum Thema Patientenorientierung: „Wir haben keinen Auftrag von Patienten, sondern von unseren Shareholdern.“ So einfach ist das. Aber die Kosten steigen und steigen im Gesundheitswesen. Was kann man dagegen tun? Das kostenträchtigste und gefährlichste Instrument im Gesundheitswesen ist der Kugelschreiber in der Hand eines Arztes. Über 80 Prozent aller Kosten werden durch seine Unterschrift verursacht. Aber wir haben keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen, das ist erstunken und erlogen. Wir sehen eine deutliche Steigerung der Beitragssätze für die gesetzliche Krankenversicherung. Doch wenn wir uns die Ausgaben für Gesundheit in Relation zum Reichtum im Land ansehen, dann ist der Beitrag trotz gigantischer Leistungsexplosion und Mengenausweitung konstant, während er in allen anderen Ländern angestiegen ist. Wir sind Weltmeister im Konstanthalten von Kosten, gemessen am Gesamtreichtum unseres Landes. Dennoch ist unser Gesundheitssystem teuer, und es ist kein Ende abzusehen. Was schlagen Sie vor, um die Kosten in Schach zu halten? Wenn wir diese Diskussion ernsthaft führen wollen, dann müssen wir schauen, wer für die Kosten verantwortlich ist. Heute hängt von den Krankenkassen ab, wie viel sie bereit sind, zu zahlen und von den Krankenhäusern, wie sie organisiert sind. Das Problem ist, dass Gesetzgeber, Krankenkassen, Träger von Einrichtungen und Ärzte in der Regel unterschiedliche Interessen haben. Bei den Krankenhäusern geht es ums Geld und ums Überleben, bei den Krankenkassen ebenso – und die Frage, wer die Qualität verantwortet, bleibt am Arzt hängen. Es ist ein grundlegender Strategiewechsel der Gesundheitspolitik nötig, weg von der Dezimierung von Kosten und Strukturen hin zu einer Optimierung der Versorgung. Mehr Arzt und weniger Medizin wäre für alle hilfreich.