„Fleischtunnel“ oder „Flesh Tunnel“ waren lange Zeit in Mode. Jetzt bieten zahlreiche Studios an, die geweiteten Piercings zu entfernen und das lädierte Ohr zu vernähen. Was heilberufliche Leistungen angeht, bewegen sich Piercer mit diesem Service in einer Grauzone.
Der Trend zu Flesh Tunnels begann vor mindestens zehn Jahren. Viele Jugendliche mit diesen Piercings haben längst ihre Ausbildung oder ihr Studium abgeschlossen. Sie merken, dass ihr Körperschmuck nicht bei allen Arbeitgebern auf Wohlwollen stößt. Häufig führt der Weg zurück ins Studio, um unliebsam gewordenes Metall wieder entfernen zu lassen. Die Zahl an Kunden sei in letzter Zeit „ganz enorm gestiegen“, erklärt Ansger Fritze vom Studio Classic Tattoo Berlin gegenüber ze.tt. Er sticht nicht nur Löcher, sondern schließt diese auch mit kleinen Eingriffen – wie ein Chirurg. DocCheck ging der Frage nach, wo die Grenze zwischen Medizin und Piercingkunst zu ziehen ist.
Juristisch gesehen stellt der Piercingvorgang eine Körperverletzung dar. Kunden müssen deshalb vorab aufgeklärt werden und ihre Einwilligung abgeben. Weist der Behandelnde nicht auf mögliche Folgen wie Entzündungen oder Nervenschädigungen hin, kann er juristisch belangt werden (hier ein Beispiel: Amtsgericht Neubrandenburg, Az.: 18 C 160/00). „Wie schon beim Piercen selbst befindet sich der Piercer auch bei der Rückgängigmachung des Eingriffs in einer rechtlichen Grauzone“, erklärt Rechtsanwalt Jan Wilking aus Oldenburg gegenüber DocCheck. „Es spricht aber viel dafür, die Durchführung von Ohrrekonstruktionen rechtlich als Ausübung von Heilkunde einzustufen.“ Als Quelle zur weiteren Beurteilung nennt Wilking das Heilpraktikergesetz: Ausübung der Heilkunde ist „jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird“. Der Experte erklärt: „Dabei ist der Begriff verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass eine Ausübung der Heilkunde immer dann vorliegt, wenn von der Behandlung eine mittelbare oder unmittelbare Gesundheitsgefährdung ausgeht.“ Eine Piercer, der weder Heilpraktiker noch Arzt ist, befindet sich demnach in einer rechtliche Grauzone.
In der Regel will man sich nicht nur von seinem Tunnel trennen sondern auch von dem ausgedehnten Hautring, der zurückbleibt. Um die Folgen eines „Flesh-Tunnels“ zu beseitigen, entfernen Piercer Gewebe und vernähen anschließend die Hautenden so, dass das Endergebnis ästhetisch und dem zweiten Ohr so ähnlich wie möglich ist. „Dies stellt ohne Frage einen chirurgischen Eingriff dar, bei dem es zu Nervschädigungen oder Blutungen kommen kann“, kommentiert Wilking. Infektionen und andere Komplikationen wie Nachblutungen und Wundheilstörungen seien nicht auszuschließen. „Es ist also kaum von der Hand zu weisen, dass von der Behandlung eine mittelbare oder unmittelbare Gesundheitsgefährdung ausgeht und daher eine Ausübung von Heilkunde vorliegt im Sinne des § 1 Abs. 2 HeilPrG vorliegt.“ Heilkunde darf aber nur von Personen erbracht werden, die über eine ärztliche Approbation oder Heilpraktikererlaubnis verfügen. Wilking: „Verfügt der Piercer hierüber nicht, darf er die Rekonstruktion nicht durchführen.“
„Ohrläppchenrekonstruktion ist keine Aufgabe eines Piercers“, so Professor Dr. Riccardo Giunta von der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen auf Nachfrage. „Daher würde ich als plastischer Chirurg warnen, solche operativen Eingriffe nicht von einem ausgebildeten Arzt durchführen zu lassen.“ Die im Blog dargestellten Verfahren seien Lappenplastiken und damit Teil der Plastischen Chirurgie.