Berührung beginnt in unserer Haut. Genauer gesagt: In bestimmten Zellen, deren Neuriten sich in unserer Haut verteilen. Wissenschaftler haben nun ein System entwickelt, mit dem sich unvorstellbar kleine mechanische Reize auf eine einzige Zelle ausüben lassen.
Die empfindlichsten dieser Zellen „reagieren auf mechanische Veränderungen auf ihrer Oberfläche in der Größenordnung von ein paar Millionstel Millimeter“, erklärt Dr. Poole. Damit eine schmerzempfindliche Zelle „antwortet“ – sie funktioniert ähnlich wie eine mechanorezeptive Zelle – „braucht es einen erheblich stärkeren Reiz“, wie die Biologin nach den jüngsten Experimenten der MDC-Forscher betont. Sie könnten wichtig sein, um neue Therapien für Menschen mit neuropathischen Schmerzen – etwa im Zuge einer Gürtelrose – zu entwickeln. Diese Patienten empfinden jeden kleinsten Tastreiz als qualvoll. Die Berliner Forscher gingen nach ihren bisherigen Experimenten davon aus, dass die mechanorezeptiven Zellen für die Tastempfindung zwar entscheidend sind – aber nur im Kontext ihrer Umgebung, der sogenannten Matrix und einiger darin eingelagerter Moleküle. Denn ein Druck auf oder eine Bewegung über die Haut wirkt auf beides gleichzeitig.
Um die Geheimnisse der Tastempfindung zu lüften, haben die Wissenschaftler erstmals ein künstliches System geschaffen, das die realen Bedingungen imitiert. Es sieht aus wie ein Nagelkissen im winzigen Maßstab von einigen tausendstel Millimetern. In diesem System lassen sich ganz feine und definierte mechanische Reize an mechanosensitive Zellen – in diesem Falle aus der Maus – setzen. Dabei können die Forscher zeitgleich die elektrische Antwort der Zelle messen. Es zeigt sich: Bewegt man einen der „Nägel“ dieses speziellen Nagelkissen um nur zehn Millionstel Millimeter, reagieren einige der mechanosensitiven Zellen und leiten den Reiz weiter – im intakten Organismus ans Gehirn. Andere der mechanosensitiven Zellen sind etwas unempfindlicher. Offenbar verfügen Säugetiere über Gruppen unterschiedlich empfindlicher Tastsensoren. Schmerzsensitive Zellen aus der Haut der Maus müssen hingegen 1000 Mal stärker mechanisch gereizt werden, ehe sie aktiv werden. „Das ist auch sinnvoll“, betont Studienleiter Prof. Lewin, „sonst würden wir oft unnötig Schmerz empfinden.“
In einem zweiten Schritt wollten die MDC-Forscher wissen, welche Moleküle die deutlich unterschiedliche Empfindlichkeit von tast- und schmerzsensorischen Zellen vermitteln. Resultat: Ein Stoml3 bezeichnetes Protein steuert die variierende Sensitivität auf mechanische Reize maßgeblich. „Wenn man das Gen für Stoml3 ausschaltet“, so Dr. Poole, „verschwinden die Unterschiede in der Tastempfindlichkeit.“ Und: Stoml3 moduliert nach den Erkenntnissen der MDC-Forscher die Aktivität und Empfindlichkeit von zwei sogenannten Ionenkanälen, die in Membranen vieler verschiedener Zelltypen zu finden sind. Diese Ionenkanäle heißen Piezo1 und Piezo2. Nach „starken Hinweisen“ ist Piezo2 an der Tastwahrnehmung beteiligt und leitet entsprechende Signale weiter, unter anderem „stark reguliert von Stoml3“, wie Prof. Lewin weiter erklärt. Zu verstehen, wie Stoml3 genau funktioniert, könnte neue Wege eröffnen, um neuropathische Schmerzen zu bekämpfen. Die Forscher wollen die hypersensitiven Tastsensoren in der Haut von Patienten blockieren. „Stoml3 ist dafür ein sehr guter Angriffspunkt“, erklärt Prof. Lewin. Das potenziell Interessante an der Entwicklung: Während etwa die Betäubungsspritze beim Zahnarzt alles Empfinden im Gewebe lahm legt, würde diese neue Therapieform nur die Umwandlung des mechanischen Reizes in elektrische Erregung bremsen. „Ansonsten könnte man weiter alles fühlen“, sagt Lewin, „Wärme, Kälte und so weiter.“ Originalpublikation: Tuning Piezo ion channels to detect molecular-scale movements relevant for fine touch Regina Herget et al.; Nature Communications, doi: 10.1038/ncomms4520; 2014