Seit Jahren versuchen Ärzte und Apotheker, Patienten mit Alkoholabhängigkeit pharmakologisch zu unterstützen. Ihr Ziel ist es, Rückfälle nach der akuten Entgiftung zu vermeiden. Neue Studien zeigen Potenziale, aber auch Grenzen von Antikonvulsiva beziehungsweise Muskelrelaxantien auf.
In Deutschland sind mindestens 1,3 Millionen Menschen alkoholabhängig. Weitere 9,5 Millionen gelten als gefährdet, in die Sucht abzurutschen. Gesundheitspolitiker beziffern alle direkten Kosten zur Behandlung von Alkoholabusus auf zehn Milliarden Euro im Jahr – vor allem durch Rückfälle bei etwa 85 Prozent aller Patienten. An dieser Stelle könnten Arzneimittel einen wertvollen Beitrag leisten.
Seit längerer Zeit untersuchen Wissenschaftler das therapeutische Potenzial von Antikonvulsiva bei Alkoholabhängigkeit. Einer kürzlich aktualisierten Cochrane Review zufolge sieht es mit dieser Pharmakotherapie unter evidenzbasierten Kriterien jedoch schlecht aus. Pier Paolo Pani, Italien, nahm zusammen mit Kollegen 25 randomisierte kontrollierte beziehungsweise kontrollierte klinische Studien unter die Lupe. Insgesamt lagen Daten von 2.641 Patienten vor, 80 Prozent Männer, im Schnitt 44 Jahre alt. Häufig wurde Topiramat verordnet, während Gabapentin, Valproinsäure, Levetiracetam, Oxcarbazepin, Zonisamid, Carbamazepin oder Pregabalin seltener zum Einsatz kamen. In 17 Studien waren Arzneistoffe wirksamer als Placebo, bezogen auf die Zahl alkoholischer Getränke pro Tag. Weitere Informationen konnten Cochrane-Wissenschaftler nicht ermitteln, etwa hinsichtlich der Abstinenz oder hinsichtlich schwerer Trinktage. Antikonvulsiva schnitten auch im Vergleich zu Naltrexon besser ab. Menschen mit Alkoholabhängigkeit profitierten von weniger Tagen mit starkem Alkoholkonsum und längeren Zeiträumen bis zum nächsten Rückfall. Was vielversprechend klingt, hat einen gewaltigen Haken: Die Evidenz entsprechender Studien wird nur als „mittel“ eingestuft. Weitere Kritikpunkte waren die Heterogenität beim Studiendesign und die teils mangelhafte Datenqualität von Vergleichsstudien an. Kliniken müssten selbst abwägen, ob sie sich für Antikonvulsiva entscheiden – oder doch lieber Arzneistoffe einsetzen, bei denen es bessere Daten gibt, schreiben die Autoren.
Gabapentin bildet jedoch eine rühmliche Ausnahme, fand Barbara J. Mason, La Jolla, heraus. In ihre doppelblinde, randomisierte Studie schloss sie 150 Teilnehmer ein, die fünf oder mehr Drinks pro Tag mit jeweils 14 Gramm Ethanol konsumierten. Wissenschaftler definierten als primären Endpunkt entweder eine vollständige Abstinenz oder maximal vier (Frauen) beziehungsweise fünf (Männer) Standardgetränke pro Tag. Zur Überwachung wurden Atemgasanalysen durchgeführt. Der Spiegel an Gamma-Glutamyltransferase zeigte ebenfalls, wie es um den Alkohol bestellt war. Probanden bekamen entweder Gabapentin (900 beziehungsweise 1.800 Milligramm pro Tag) oder Placebo. Das Antikonvulsivum schnitt hinsichtlich der totalen Abstinenz signifikant besser ab – es gab sogar einen linearen Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung. Im Vergleich zu 4,1 Prozent (Placebo) erreichten 11,1 Prozent (900 Milligramm Gabapentin) und 17 Prozent (1.800 Milligramm) diesen primären Endpunkt. Der Arzneistoff reduzierte in niedriger beziehungsweise höherer Dosierung schweres Trinken um 29,6 beziehungsweise 44,7 Prozent, während es unter Placebo lediglich 22,5 Prozent waren. Auch beim typischen Craving fand man einen linearen Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung. Die Autoren sprechen generell von einer guten Wirksamkeit in Kombination mit geringfügigen Nebenwirkungen. Edward V. Nunes, New York, ergänzt in einem Kommentar zur Studie, Gabapentin sei eine wertvolle Ergänzung des therapeutischen Arsenals bei leichter bis mittelschwerer Abhängigkeit – und zwar ohne Gewöhnungseffekt. Das mache die Substanz für hausärztliche Behandlungen interessant.
Aus pharmazeutischer Sicht gibt es noch andere vielversprechende Wirkstoffe. Seit Olivier Ameisens spektakulären Selbstversuchen setzen Patienten hohe Erwartungen in Baclofen – zu Recht? Der französische Arzt dokumentierte in „Das Ende meiner Sucht“ und in einem Fachbeitrag, wie er mit hohen Dosen des Muskelrelaxans seine Krankheit erfolgreich überwand. Baclofen hat Ameisen zufolge den Vorteil, dass auch Patienten mit vorgeschädigter Leber profitieren, da der Wirkstoff nahezu unverändert über ihre Nieren ausgeschieden wird. Momentan gibt es vier randomisierte, placebokontrollierte Studien. Zwei Arbeiten wurden 2002 beziehungsweise 2007 veröffentlicht. Giovanni Addolorato, Rom, setzte Baclofen in vergleichsweise niedriger Dosierung von 30 Milligramm pro Tag ein und erzielte damit bei 70 Prozent eine Abstinenz (Placebo: 21 bis 28 Prozent). Wissenschaftlern gelang es nicht, den Effekt im Rahmen weiterer Studien aus 2010 und 2011 zu reproduzieren. Trotzdem hatte Baclofen einen Mehrwert: Im Vergleich zu Placebo reduzierte sich die Zahl an Drinks pro Tag um 53 Prozent (30 Milligramm Baclofen) beziehungsweise 68 Prozent (60 Milligramm). Seit Anfang 2011 läuft an der Berliner Charité die randomisierte BACLAD-Studie mit maximal 90 Milligramm des Muskelrelaxans. Und Ergebnisse von BACLOVILLE beziehungsweise ALPADIR, das sind zwei doppelblinde, placebokontrollierte Studien, erwarten Forscher voraussichtlich Anfang 2015. Darauf will in Frankreich aber niemand warten. Am 14. März 2014 gab die Behörde für Medikamentensicherheit (Agence Nationale de Sécurité du Médicament et des Produits de Santé, ANSM) zeitlich befristet grünes Licht. Ärzte dürfen Baclofen ab sofort bei Alkoholabhängigkeit verschreiben, ohne mögliche Folgen einer Off-Label-Use.
Zurück nach Deutschland: Bislang waren Präparate zur Verringerung des Alkoholkonsums nur in Ausnahmefällen eine Kassenleistung. Jetzt lockerte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) entsprechende Regularien: Alkoholkranke Patienten erhalten übergangsweise Medikamente, falls sie damit in Richtung Abstinenztherapie geführt werden beziehungsweise falls auf die Schnelle kein Therapieplatz zur Verfügung steht. Leistungsträger übernehmen alle Kosten maximal drei, in begründeten Ausnahmen auch maximal sechs Monate lang. Für den G-BA-Vorsitzenden Josef Hecken bleibt völlige Abstinenz aber ein übergeordnetes Therapieziel.