Anthropologen ermittelten nun Ursachen für Beschleunigung und Verlangsamung der Evolution von Spermienproteinen des Menschen und anderer Primaten. Die Studienergebnisse könnten neue Ansätze für die Erforschung männlicher Unfruchtbarkeit bieten.
Primaten wie Gibbons oder Schimpansen sind für ihr unterschiedliches Paarungsverhalten bekannt, das von Monogamie bis zu ausgeprägter weiblicher Promiskuität variieren kann. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass sich dieses unterschiedliche Verhalten auch auf genetischer Ebene widerspiegelt. Spermienproteine, die für die Konkurrenzfähigkeit eines Spermiums, seine Schnelligkeit und Bindung an die Eizelle zuständig sind, unterliegen im Laufe der Evolution schnelleren Veränderungen als andere Spermienproteine. Besonders schnell evolvieren sie aber bei Primatenarten, deren Weibchen häufig den Sexualpartner wechseln, wie es beispielsweise beim Gemeinen Schimpansen der Fall ist. „Dies konnten wir durch den Vergleich der Erbsubstanz von acht Primatenarten, darunter eine Gibbonart sowie der Gemeine Schimpanse, feststellen“, erklärt PD Dr. Holger Herlyn vom Institut für Anthropologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). „Die weibliche Promiskuität treibt praktisch die Evolution der Spermienproteine von Primaten an.“ Für Schimpansen-Weibchen wird beispielsweise von bis zu acht Sexualpartnern während der fruchtbaren Tage ausgegangen; Gibbon-Weibchen haben dagegen in der Regel nur einen Sexualpartner, nämlich das Männchen, mit dem sie zusammenleben. Die Untersuchungen der Forschergruppe um Herlyn und seine Mitarbeiterin Julia Schumacher liefern außerdem Hinweise darauf, wo nach den molekularen Ursachen für die Abnahme männlicher Fruchtbarkeit zu suchen wäre, die aktuell in westlichen Gesellschaften beobachtet wird. Die Wissenschaftler der Mainzer Anthropologie forschen seit rund zehn Jahren über die Kräfte, die zu einer Beschleunigung oder Verlangsamung der Evolution führen. „Spontan einsetzende Mutationen können sich im Laufe der Zeit in einer Population ausbreiten oder aber auch wieder ganz verschwinden“, erklärt Herlyn. "Im Grunde genommen geht es bei unserer Forschungsarbeit um die Frage, welche Kräfte zu einer verstärkten bzw. verlangsamten Ausbreitung spontan aufgetretener Mutationen führen."
Während weibliche Promiskuität die Evolutionsrate beschleunigt, führen andere Faktoren zu einer Verlangsamung. So haben die Mainzer Forscher festgestellt, dass Spermienproteine, die am Aufbau oder der Struktur einer Samenzelle beteiligt sind, über alle Arten hinweg langsamer evolvieren. Auf der Suche nach den Ursachen dieser verlangsamten Sequenzevolution entdeckten die Wissenschaftler, dass die Aufbau- und Strukturproteine deutlich mehr Interaktionspartner aufweisen als die „Performance-Proteine“, die für die Konkurrenzfähigkeit zuständig sind. Aufbau- und Strukturproteine hängen in einem verzweigten Netzwerk mit vielen anderen Proteinen funktionell zusammen und interagieren. Sie sind außerdem viel häufiger mit Phosphatgruppen versehen, was ebenfalls die Wichtigkeit des jeweiligen Proteins widerspiegelt – und je wichtiger, desto langsamer evolviert es. Im Hinblick auf den Rückgang der männlichen Fruchtbarkeit weisen die Ergebnisse eventuell auf einen neuen Forschungsansatz hin. Die stärker konservierten, phosphorylierten Aufbau- und Strukturproteine mit ihren zahlreichen intrazellulären Interaktionspartnern sollten, so die Mainzer Anthropologen, im Fokus stehen, wenn die molekularen Ursachen verminderter männlicher Fruchtbarkeit erforscht werden. Originalpublikationen: Mating systems and protein–protein interactions determine evolutionary rates of primate sperm proteins Holger Herlyn et al.; Proceedings of the Royal Society B, DOI: 10.1098/rspb.2013.2607; 2014 Evolutionary Conservation of Mammalian Sperm Proteins Associates with Overall, not Tyrosine, Phosphorylation in Human Spermatozoa Julia Schumacher et al.; Journal of Proteome Research, DOI: 10.1021/pr400228c; 2013