Kaum eine medizinische Fachrichtung hat sich im letzten Jahrzehnt derart stark entwickelt wie die Onkologie. Therapien sind personalisierter geworden, Prognosen haben sich verbessert. Wir sprachen mit Privatdozent Dr. Martin Weihrauch von der Uniklinik Köln. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und internistische Onkologie.
Dr. Martin Weihrauch Copyright: M. Wodak / MFK / Uniklinik Köln „Ende der 1990er-Jahre habe ich als junger Assistent in der Klinik angefangen“, erzählt Dr. Martin Weihrauch. Zu diesem Zeitpunkt habe sich die Onkologie noch einfach überblicken lassen. Es hätten vielleicht 60 Chemotherapeutika exisitiert, die in diversen Protokollen verabreicht wurden. Weihrauch: „In keinem medizinischen Fach gab es derart viele Veränderungen.“ Beispielsweise sei die Zahl an Medikamenten „förmlich explodiert“, und Kombinationsmöglichkeiten sowie Behandlungsabfolgen wurden immer komplexer. Jetzt schlägt die Stunde der Spezialisierung. Das war nicht immer so. „Beim Kolonkarzinom gab es Mitte der 1990er-Jahre nur wenige Medikamente zur Behandlung, z.B. 5-Fluorouracil oder Leukovorin“, erinnert sich Martin Weihrauch. Palliativ konnte man die Lebenserwartung im Schnitt von sechs Monaten ohne Behandlung auf ein Jahr anheben. Ende der 1990er folgten weitere Zytostatika, nämlich Oxaliplatin und Irinotecan. Mitte der 2000er-Jahre kamen Antikörper wie Bevacizumab oder Cetuximab auf den Markt. „Heute haben wir beim metastasierten Dickdarmkrebs die Situation, dass Patienten zweieinhalb bis drei Jahre im Durchschnitt überleben, und Überlebenszeiten von fünf bis sechs Jahren sind nicht ungewöhnlich.“
Wie sich bei Kolonkarzinomen zeigt, hat in der Onkologie längst ein Umdenken stattgefunden. Heute kommen nur noch wenige neue Zytostatika auf den Markt – bei vielen Erkrankungen führten entsprechende Substanzen in eine „therapeutische Sackgasse“, so Weihrauch. Mit neuen zytotoxischen Substanzklassen rechnet niemand. „Durch Antikörper und Signalinhibitoren hat die Onkologie immense Fortschritte in Richtung personalisierter Therapien gemacht.“ Martin Weihrauch erklärt: „Beim Lungenkrebs gibt es das kleinzellige Karzinom und die Nichtkleinzeller wie das Adenokarzinom und das Plattenepithelzellenkarzinom.“ Dieser histologische Ansatz verliert immer mehr an Bedeutung. „Heute versuchen wir, zu erkennen, ob Mutationen vorliegen, zum Beispiel im EGF-Rezeptor.“ Erlotinib und Gefitinib wirken beim EGF-Rezeptor-mutierten Lungenkrebs, der häufiger bei Nichtrauchern vorkommt, öfter bei Frauen und Asiaten. Weihrauch: „Wir konnten ihre Lebenserwartung durch Tyrosinkinase-Inhibitoren von durchschnittlich einem Jahr auf drei Jahre erhöhen.“ Allerdings spielen EGF-Mutationen nur bei zwölf Prozent aller Lungenkrebs-Patienten eine Rolle, und ALK-Mutationen sogar nur bei vier Prozent. Patienten mit Dickdarmkrebs, die im KRAS-Gen einen Wildtyp aufweisen, profitieren von Cetuximab beziehungsweise Panitumumab. „Es wird immer personalisierter, aber wir haben noch nicht Arzneistoffe für jeden Krebspatienten parat“, so der Onkologe.
Dann noch ein Blick auf maligne Erkrankungen des Blutes beziehungsweise des blutbildenden Systems. „Patienten mit chronischer myeloischer Leukämie (CML) konnten wir früher nur mit Knochenmarkstransplantationen heilen“, erinnert sich Weihrauch. Seit einiger Zeit haben Onkologen Imatinib als Inhibitor der Tyrosinkinase ABL. Nach zehn Jahren leben erfreulicherweise noch rund 90 Prozent der Patienten, früher lag die Prognose im Schnitt bei zwei bis vier Jahren. Weihrauch: „CML ist von einer unheilbaren zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung geworden.“ Als zweite Wirkstoffgeneration kamen Nilotinib und Dasatinib später auf den Markt. Mittlerweile stehen Tyrosinkinase-Inhibitoren der dritten Generation parat: Bosutinib und Ponatinib. Damit sind Knochenmarkstransplantationen inklusive aller Risiken in den Hintergrund gerückt. Und bei chronisch-lymphatischen Leukämien (CLL) gelang es Onkologen, durch monoklonale Antikörper wie Rituximab die Überlebenszeiten erheblich zu verlängern. Zudem sprechen neue Substanzen wie ABT199 und Ibrutinib erstmals bei chemotherapierefraktären Patienten exzellent an.
Ein weiterer Sieg aus onkologischer Sicht: Das multiple Myelom, ein Non-Hodgkin-Lymphom, war vor etwa 20 Jahren „mit eine der schlimmsten hämatologischen Krebserkrankungen“, weiß Martin Weihrauch. Myelomzellen hemmen Osteoblasten im Knochen, so dass Osteoklastenaktivitäten überwiegen, und es kommt zu Osteolysen, die zu schmerzhaften Frakturen bei Patienten führen. Auch hier gab es eine kleine Revolution: Bisphosphonate hemmen Osteoklasten und verminderten die Knochenresorption. Weihrauch: „In der Onkologie sind Frakturen heute zum seltenen Ereignis geworden.“ Um die Grunderkrankung selbst zu behandeln, erhalten Patienten etwa bis Mitte 60 Hochdosis-Chemotherapien, gefolgt von einer autologen Stammzelltransplantation. Diese Strategie wird heutzutage ergänzt oder bei älteren Patienten ersetzt, seit Bortezomib und Thalidomid sowie dessen Derivate Lenalidomid beziehungsweise Pomalidomid erhältlich sind: Wirkstoffe, welche die Prognose zudem deutlich verbessern konnten.
Entsprechende Innovationen haben auch ihre Schattenseite: „Wir zahlen heute für viele Arzneistoffe künstliche Preise“, kritisiert Weihrauch. Eculizumab zur Behandlung der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie kostet zirka 15.000 Euro pro Infusion – alle zwei Wochen, lebenslang. Bei Imatinib für CML-Patienten sind es mehr als 10.000 Euro für die dreimonatige Therapie. Zwar übernehmen gesetzliche Krankenversicherungen entsprechende Kosten, und Menschen profitieren hinsichtlich ihrer Lebenszeit. Bei so manchem Präparat ist der Mehrwert jedoch fraglich. Weihrauch: „Ich könnte mir vorstellen, dass wir darüber in Zukunft diskutieren müssen.“