Verletzungen des Rückenmarks bedeuten für die Betroffenen oft ein Leben mit schwerer Behinderung. Doch eine schnelle und wirksame Versorgung kann Schlimmeres verhindern – und vielleicht sogar in Zukunft den Querschnitt reparieren.
Rund zwanzigmal am Tag trifft es in Deutschland einen Menschen, der sich schwerwiegend an der Wirbelsäule verletzt. Bei jedem Fünften bleiben Schäden am Nervensystem zurück. Aber selbst wenn der Patient einer Lähmung entgeht, leidet er doch in den meisten Fällen weiterhin an den Folgen seines Unfalls.
Im schlimmen Fall einer Querschnittläsion sind es nicht nur die Extremitäten, die keine sensorische und motorische Kontrolle mehr erlauben, sondern auch ganz banale physiologische Funktionen, die das Leben beeinträchtigen. Ohne die Steuerung des zentralen Nervensystems funktioniert die willentliche regelmäßige Entleerung der Blase nicht mehr. Mit dem Blasenkatheter steigt aber auch die Gefahr von Infektionen stark an. Dazu kommt etwa der Dekubitus, wenn Pfleger den ungesteuerten Körper nicht regelmäßig umlagern. „Ärzte schreiben das Rückenmark ab“, so klagt Neurologe James Fawcett von der englischen Cambridge University, „und konzentrieren sich darauf, was noch möglich ist, um das Leben erträglich zu machen.“ Im Vergleich zur Hoffnungslosigkeit noch vor einigen Jahrzehnten gibt es Ansätze, den Querschnitt rechtzeitig mit geeigneten Behandlungsmethoden zu verhindern oder ihn in Zukunft sogar teilweise aufzuheben.
Einer der wichtigsten Faktoren bei der Behandlung ist dabei die Zeit zwischen Verletzung und ihrer Versorgung. „Time is Spine“ lautet ein gängiger Spruch der Neurochirurgen. Schon seit längerem ist bekannt, dass eine rasche Operation die Chancen für den Patienten deutlich verbessert. Das betrifft dabei weniger die mechanischen Schäden an der Wirbelsäule als vielmehr das Rückenmark. Eine internationale prospektive Studie mit über 300 verletzten Halswirbelsäule-Patienten ergab, dass ein schneller Einsatz der Chirurgen – innerhalb von 24 Stunden – den Druck an betroffenen Regionen entlastet und die Chancen einer neurologischen Wiederherstellung um das Dreifache steigert. Die Strategie einer schnellen Operation liegt darin, dass der Patient mobilisiert werden kann, sobald die Wirbelsäule stabil ist. Das verringert die Möglichkeit von Komplikationen und die Aufenthaltsdauer in der Intensivstation. Die Studie gilt allerdings wohl nur für Verletzungen im oberen Bereich des Rückgrats, während bei Schäden in der zentralen Region die Fakten weniger klar sind. Trotz allem Zeitdruck bedarf es besonders bei der Aufnahme der Verletzung ganz besonderer Sorgfalt. Im Röntgenbild verbirgt eine altersbedingte Arthritis oder Osteoporose einen Wirbelbruch. Im Nackenbereich ist ein falscher Befund dann oft lebensbedrohlich.
Bei der Behandlung von Rückenmarksverletzungen, so sind viele Experten überzeugt, tun sich mit Hilfe der Stammzelltechnologie neue Möglichkeiten auf. Eine Studie aus dem Jahr 2011 untersuchte sieben Patienten mit Lähmungen im Brustwirbelbereich. Diese Patienten erhielten 20 Millionen allogene neuronale Stammzellen. Bei zwei von drei Patienten bewirkten die „Frischzellen“ neuronale Verbesserungen innerhalb eines Jahres. Ein Patient, der zuvor über völlige Gefühllosigkeit in den Beinen geklagt hatte, brachte sogar leichte Bewegungen zustande. Entsprechend den Plänen des Sponsors „StemCells Inc.“ für diese Studie an der Balgrist-Klinik in Zürich sollen auch bald Studien in den USA und Kanada folgen. Etwas Ähnliches hat auch der Konkurrent „Neuralstem“ aus dem amerikanischen Rockville vor. Eine Phase-I-Studie mit acht Brustwirbel-gelähmten Patienten soll noch in diesem Jahr Ergebnisse bringen. Der Einsatz am Menschen ist dabei allem Anschein nach ohne ernste Nebenwirkungen möglich, wie frühere Studien bei ALS-Patienten gezeigt haben.
Beide Firmen sind überzeugt, dass sich der Einsatz von Stammzellen auch dann lohnt, wenn die Injektion nicht gleich in den ersten Tagen nach dem Unfall erfolgt. Bis zu zwei Jahren nach der Verletzung sind die beiden Firmen bereit, entsprechende Patienten für ihre Studien zu rekrutieren, auch wenn sie zugeben, dass mit zunehmendem zeitlichen Abstand die Chancen für eine Regeneration sinken. Neben neuronalen Stammzellen stehen besonders in Amerika noch weniger differenzierte embryonale Stammzellen hoch im Kurs, wenn es um Wirbelsäulenverletzungen geht. Die kalifornische Firma "Geron" hat sich allerdings aufgrund gesetzlicher Beschränkungen bei der Arbeit mit diesen Zellen zurückgezogen. "Asterias", eine andere Firma ganz in der Nähe, will jedoch Gerons Forschungsprogramm weiterführen, auch wenn diese zellulären Alleskönner die Gefahr von Teratomen nach der Implantation bergen. In den ersten Versuchen, noch von Geron, scheint es den Wissenschaftlern aber gelungen zu sein, dieses Risiko zu kontrollieren. Neben der Hoffnung, dass neu gebildete Neuronen das Narbengewebe an der Verletzungsstelle überwinden und damit neue Leitungen schaffen können, setzen die Stammzell-Techniker auch auf die Differenzierung von jungfräulichen Zellen zu Oligodendrozyten. Vielfach sind die Nervenbahnen nicht komplett unterbrochen, sondern nur angeschlagen und haben etwa ihre Myelin-Isolierung verloren. Neugebildete Gliazellen könnten dann dieses Myelin nachbilden und außerdem dafür sorgen, dass sich am Verletzungsort neue Gefäße bilden. Auch entsprechende Faktoren für die Regeneration der Neuronen könnten die ausdifferenzierten ehemaligen Stammzellen liefern. Die klinischen Versuche stehen aber vorerst noch in der Phase I. Noch etwas weiter weg vom medizinischen Routineeinsatz sind die ethisch „verträglicheren“ induzierten pluripotenten Stammzellen. Ein japanische Studie untersucht derzeit ihre mögliche Anwendung bei der Makuladegeneration im Auge. Bei vielversprechenden Resultaten könnten auch dann die Rückenmark-Neurologen zum Zuge kommen.
Mehr als die Hälfte aller Patienten mit Wirbelsäulenverletzungen leidet an neuropathischen Schmerzen. Jedoch ist auch unter den Spezialisten noch nicht ganz klar, worauf diese Schmerzen beruhen. Möglicherweise stammen sie von hyperaktiven Nerven an der Stelle der Verletzung oder darunter. So klagen etwa viele Patienten mit Verletzungen des Kreuzwirbels über Schmerzen im Fuß. Andere Neurologen verlegen den Ausgangspunkt der Pein in das Gehirn. Das ursprünglich als Antikonvulsivum bei Epileptikern entwickelte Gabapentin hilft in etwa einem Drittel der Wirbelsäulenverletzten, indem es den Neurotransmitter GABA erhöht. Ähnliche Wirkung hat auch das Nachfolgepräparat Pregabalin.
Damit die Chancen für Wirbelsäulenverletzte über ein mehr oder minder bewegungsunfähiges Leben im Rollstuhl hinausgehen, müssen die vielen Rädchen der Versorgung schnell und reibungsarm ineinandergreifen. Sollen neue Erkenntnisse ohne lange Verzögerung beim Patienten ankommen, ist regelmäßige Fortbildung eine Grundvoraussetzung. Neben den Kursen der Fachgesellschaften hat die International Spinal Cord Society ein eigenes Fortbildungsportal geschaffen. Elearnsci.org ist eine Selbstlernplattform für Ärzte, Schwestern, Therapeuten und andere, die an der Versorgung beteiligt sind. Auch die amerikanische Fachgesellschaft ASIA bietet kostenlose Lernmodule (InSTeP) oder auch eine Online-Lernsoftware für die Untersuchung von Kindern (WeeSTeP).