Mehr als 30 Jahre nach der Zulassung von Tramadol wurde es jetzt von Wissenschaftlern in der Natur entdeckt. Nicht umsonst boomt noch immer die Suche nach Wirkstoffen in Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen.
Seit Jahrtausenden nutzen Menschen die Wirkstoffe aus der Natur – zum Heilen und zum Töten. Und auch heute noch setzt die Medikamentenentwicklung auf die Kraft der Pflanzen, Mikroorganismen oder der Tiere. Nach Informationen der DECHEMA sind seit Jahrzehnten noch immer mehr als 50 Prozent der neu zugelassenen Medikamente niedermolekulare Naturstoffe oder leiten sich von diesen ab.
Doch manches Mal glaubten Forscher, der Natur ein Schnippchen geschlagen zu haben und etwas Besseres entwickelt zu haben. So wie beispielsweise bei dem Schmerzmedikament Tramadol. Von Chemikern der Firma Grünenthal im Labor entwickelt, ist das vollständig synthetisch hergestellte Medikament seit 1977 zur Behandlung mäßiger bis starker Schmerzen zugelassen. Und bisher glaubten die Wissenschaftler auch, dass dieses komplexe Molekül nur synthetisch hergestellt werden könnte. Doch die Natur hat sie nun eines Besseren belehrt. Auf der Suche nach neuen Wirkstoffen in der Natur hat ein Team aus französischen Wissenschaftlern und Forschern aus Kamerun in der Wurzelrinde des afrikanischen Nadelkissenbaumes (Nauclea latifolia) Tramadol entdeckt. Die Einheimischen in dem afrikanischen Land verwenden die zerkleinerte Wurzel als Tee für die Behandlung von Schmerzen, Fieber, Malaria, Epilepsie und Krampfanfällen bei Kindern. Wie der Baum die komplexe Struktur synthetisiert ist noch völlig unklar. Dr. Ulrich Jahnel, Forschungsleiter bei der Firma Grünenthal, vermutet aber, dass die Synthese komplett anders verlaufen könnte, als sie großtechnisch erfolgt. Interessant ist, dass Tramadol in der Wurzel in klinisch relevanten Konzentrationen vorkommt.
In der Vergangenheit wurden erst zweimal Substanzen in der Natur entdeckt, die zuvor nur aus der Synthese aus dem Labor bekannt waren. Zum einen waren das die Benzodiazepine, die bereits 1955 als Medikament zugelassen wurden. Sie wurden Ende der 1980er Jahre in Pflanzen und in verschiedenen Geweben von Tieren und Menschen nachgewiesen. Allerdings ist die Konzentration so gering, dass Experten davon ausgehen, dass die vorhandenen Mengen keine klinische Relevanz haben. Zum anderen wurde Fluoruracil aus dem Schwamm (Phakellia fusca) isoliert, nachdem es bereits als Zytostatikum in der Chemotherapie im Einsatz war, beispielsweise beim kolorektalen, dem Ösophagus- und dem Mammakarzinom. Doch auch in diesem Fall ist die natürlich vorkommende Konzentration zu gering, um klinisch wirksam zu sein.
Das wohl bekannteste Beispiel eines Medikamentes, das dem Vorbild der Natur nachgebaut wurde, ist wohl das Aspirin. Schon im Griechenland der Antike wurde die Weidenrinde zur Schmerzlinderung und zur Fiebersenkung verwendet. Schwangere kauten die Rinde gegen den Wehenschmerz. Doch auch im China des 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung wurden Heilmittel aus pflanzlichen, tierischen und mineralischen Quellen angewendet. Auch die alten Ägypter hatten bereits ein breites medizinisches Wissen, wie man im Papyrus Ebers, einem der ältesten bekannten Texte mit Beschreibungen von Krankheiten und Heilmitteln, nachlesen kann. Beispielsweise wussten sie um die Wirkungsweise des Fingerhuts, der herzwirksame Glykoside enthält, die zum Teil bis in die moderne Medizin Anwendung finden. Vieler dieser Substanzen können inzwischen voll- oder halbsynthetisch hergestellt werden, so dass die ursprüngliche Quelle in der Natur nicht geschröpft werden muss.
Anders ist das beispielsweise noch immer bei Penicillin. Es wird heute in großen Fermentern durch Kultivierung von besonderen Penicillium-Stämmen gewonnen und hergestellt. Eine synthetische Produktion ohne die Bakterien ist jedoch noch immer nicht möglich. Ebenso ist es bei Docetaxel, einem Zytostatikum, das bei Brustkrebs und anderen Krebserkrankungen eingesetzt wird. Die Vorstufe Paclitaxel wird aus den Nadeln der europäischen oder der Rinde der pazifischen Eibe gewonnen. Im Labor erfolgt dann die weitere Synthese zum aktiven Wirkstoff. Der zur Verfügung stehende Ausgangsstoff, nämlich die Eibenbäume, sind nur begrenzt vorhanden. Werden sie, wie in Asien entrindet, um an den Wirkstoff zu kommen, sterben die Bäume.
Lange Zeit konnte auch der effektivste Wirkstoff gegen Malaria, Artemisinin, nur aus den Blättern des einjährigen Beifuß (Artemisia annua) isoliert werden. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam und der Freien Universität Berlin haben 2012 eine sehr einfache Synthesemethode entwickelt, die mit einer Anfangssubstanz zurecht kommt, die entweder als Abfallprodukt bei der bisherigen Methode der Artemisinproduktion entsteht, oder aber biotechnologisch in Hefe erzeugt werden kann.
Ein weiteres Beispiel ist 10-Deacetylbaccatin, das zu den natürlich vorkommenden Taxanen gehört. Da es das Zellwachstum bzw. die Zellteilung hemmt, wird es in der Krebstherapie verwendet. 10-Deacetylbaccatin ist besonders interessant, weil es – im Gegensatz zu Taxol – in größeren Mengen gewonnen werden kann. Taxol findet sich vor allem in der Rinde der Pazifischen Eibe, einem langsam wachsenden Baum, der durch die Entfernung der Rinde zerstört wird. Innerhalb kürzester Zeit wäre die Art ausgerottet. 10-Deacetylbaccatin findet sich hingegen in höherer Konzentration in den Nadeln der Europäischen Eibe und kann daher aus den nachwachsenden Strukturen gewonnen werden. Nach der Isolierung kann es über einige Syntheseschritte zu Taxol umgesetzt werden. Es gibt unzählige weitere Beispiele für Wirkstoffe, die direkt oder in einer Weiterentwicklung aus der Natur stammen – von Statinen aus Schimmelpilzen bis zu Immunsuppressiva aus anderen Pilzkulturen. Im Grunde ist doch damit auch die Behandlung mit klassischen Schmerzmitteln, Fiebersäften und Chemotherapeutika nur eine geringfügige Weiterentwicklung der Naturheilkunde. Oder?