Seit Jahren ist Metformin als orales Antidiabetikum die erste Wahl. Aber auch Patienten mit Lungen- und Krebserkrankungen, hormonellen Störungen oder Suchterkrankungen könnten davon profitieren. Nur ärgerlich, dass Hersteller den alten Arzneistoff links liegen lassen.
Aus alt mach neu: „Laufende und geplante Studien mit Metformin […] könnten beweisen, dass altersbedinge Erkrankungen eine Indikation für die Entwicklung von Medikamenten sind“, schrieb Asher Mullard aus Ottawa kürzlich in Nature Reviews Drug Discovery. Sein Optimismus stützt sich auf etliche Befunde. Schon lange ist bekannt, dass Metformin beim Fadenwurm C. elegans oder bei Mäusen das Leben verlängert. Wissenschaftler vermuten, dass u.a. Sirtuine, also Enzyme, die unseren Zellzyklus kontrollieren, beeinflusst werden. Schon lange bringen Forscher diese Proteingruppe mit Alterungsprozessen in Verbindung. Die AMP-aktivierte Proteinkinase (AMPK) und die Kinase mTOR, beide sind an zellulären Regulationsvorgängen beteiligt, kommen ebenfalls infrage. Auch der Insulin-like growth factor 1 (IGF-1) steht Mullard zufolge mit Metformin in Zusammenhang. IGF-1 kontrolliert das Zellwachstum. Um zu klären, ob sich Effekte vom Tiermodell tatsächlich auf die Humanmedizin übertragen lassen, startete in 2016 die Studie TAME (Targeting Aging with Metformin) mit 3.000 Menschen zwischen 65 und 80 Jahren. Sie hatten in ihrer Vorgeschichte Krebs, Herzkrankheiten, neurodegenerative Erkrankungen oder entsprechende Risikofaktoren, aber keinen Diabetes. Ergebnisse gibt es erst in einigen Jahren. Abgesehen davon tut sich rund um Metformin noch mehr: Bei clinicaltrials.gov sind mehr als 2.100 klinische Studien zu unterschiedlichen Indikationen gelistet, und nicht nur zu diabetologischen Fragestellungen.
„Die innovative Weiterentwicklung bewährter Arzneimittel bietet die Chance, bedeutende Fortschritte in der Pharmakotherapie auch mit begrenztem Entwicklungsrisiko und Aufwand zu erzielen“, schreibt der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) in einem Positionspapier. „Patientinnen und Patienten profitieren von Arzneimitteln mit verbesserten Eigenschaften bei gleichzeitig bereits bekanntem Sicherheitsprofil.“ Krebserkrankungen gehören mit zu den wichtigsten Indikationen.
Schon lange diskutieren Onkologen, ob sich das alte Antidiabetikum zur Krebstherapie oder Krebsprophylaxe eignen könnte. Im Jahr 2009 zeigten Forscher anhand einer schottischen populationsbasierten Kohorte mit Diabetespatienten, dass unter Metformin rund 60 Prozent weniger Krebsfälle aufgetreten sind, als statistisch zu erwarten waren. Andere Gruppen konnten dies anhand retrospektiv ausgewerteter Kohortendaten nicht bestätigen. Doch das Blatt wendet sich erneut. Corinna Seliger vom Uniklinikum Regensburg hat Daten von knapp 1.100 Gliompatienten retrospektiv ausgewertet. Es handelte sich um fortgeschrittene Stadien der WHO-Grade III oder IV. Metformin war mit einem rund 70 % höheren Gesamtüberleben und progressionsfreien Überleben speziell beim Grad-III-Gliom assoziiert. Bei Grad IV-Gliomen gab es keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen mit und ohne Metformin. Zur Erklärung nennt Seliger Mutationen im Gen, das für Isocitrat-Dehydrogenase (IDH 1) codiert: ein Enzym des Energiestoffwechsels. Es war bei Patienten mit Grad III-Gliom deutlich häufiger mutiert. Mittlerweile finden sich in der Literatur auch Hinweise, dass Patientinnen mit Karzinomen des Endometriums, des Kolons oder des Pankreas vom Antidiabetikum profitieren könnten. Weitere Studien mit größeren Fallzahlen sind aber dringend erforderlich, um Zweifel am Effekt auszuräumen. Forscher wollen darüber hinaus folgende Fragen klären:
Auch bei der Lungenfibrose ist der Energiestoffwechsel eine interessante Zielstruktur. Die Erkrankung tritt nach Infektionen, Chemotherapien oder Bestrahlungen auf. Bei der idiopathischen Lungenfibrose (IPF) sind mögliche Auslöser unbekannt. In allen Fällen kommt es zur vermehrten Bildung von Bindegewebe. Chancen auf eine Heilung gibt es derzeit nicht. Victor J. Thannickal und Jaroslaw W. Zmijewski von der University of Alabama at Birmingham sind auf eine heiße Spur gestoßen. Sie fanden in IPF-Gewebeproben eine niedrige Aktivität der AMP-aktivierten Proteinkinase (AMPK). Das Enzym ist Teil des zellulären Energiestoffwechsels. Die Zellen waren nahezu unsterblich, sie gingen kaum über die Apoptose, also den geregelten Zelltod, zugrunde. Metformin aktivierte in vitro Mitochondrien und normalisierte die Apoptose-Rate. Ihre Vermutungen bestätigten Thannickal und Zmijewski im Mausmodell. Zuerst lösten sie bei Nagern mit dem Zytostatikum Bleomycin eine Lungenfibrose aus. Drei Wochen später begannen sie mit der Metformin-Therapie. Nach fünfwöchiger Gabe des Pharmakons waren Lungenfibrosen deutlich schwächer als zu Behandlungsbeginn. Daten aus klinischen Studien gibt es noch nicht, aber die Erwartungen sind hoch.
Die AMPK kommt nicht nur in fibrotischem Gewebe, sondern auch im Hippocampus vor. Neurologen wissen aus Tierexperimenten, dass Nikotin AMPK-aktivierend wirkt. Ein Tabakentzug führt zum gegenteiligen Effekt und erschwert es, dem blauen Dunst zu entsagen. Julia K. Brynildsen von der University of Pennsylvania zeigte bei Mäusen, dass Metformin auch im Hippocampus die AMPK-Aktivität erhöht. Nager waren unter Nikotin-Entzug weniger ängstlich, falls sie das orale Antidiabetikum bekamen. Das ist letztlich noch kein Beweis für Effekte beim Menschen. Metformin wurde als altes Pharmakon jedoch so gut untersucht, dass klinische Studien mit geringem Risiko möglich sind.
Metformin ist nicht nur Thema der Grundlagenforschung. Ärzte setzen den Arzneistoff beim Polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS) gelegentlich off-label ein, sprich außerhalb der Zulassung. Das PCOS führt als häufigste Hormonstörung im Erwachsenenalter zu Zyklus-Unregelmäßigkeiten bis hin zur Amenorrhö inklusive Unfruchtbarkeit. Bei Patientinnen treten vermehrt Zysten in den Ovarien und hohe Androgenspiegel auf. Wünschen sich Frauen Kinder, sind antiandrogene Kontrazeptiva nicht möglich, und hier könnte Metformin womöglich die Lücke schließen. Zumindest im Mausmodell wirkt das Molekül antiandrogen. In großen klinische Studien (Richard S. Legro, Etelka Moll) zeigte der Wirkstoff jedoch keinen überragenden Benefit. Metformin plus Clomifen wirkte nicht besser als Clomifen alleine. Clomifen löst den Eisprung aus. Deshalb raten Gynäkologen primär nur bei Frauen mit PCOS und Insulinresistenz zum Wirkstoff. In einer Stellungnahme nennt die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) Metformin bei Frauen ohne Insulinresistenz nur als Alternative („trial and error“), falls sich Zyklen mit Clomifen allein nicht stimulieren lassen. Da Metformin keine Zulassung beim PCOS hat, bleibt nur der Einsatz off-label. Hier geht es weniger um Kosten, Metformin ist preisgünstig. Ärzte haften, sollte der Arzneistoff unerwünschte Effekte zeigen, da sie außerhalb der Zulassung arbeiten.
Alles in allem stecken in Metformin große Potenziale. Aber warum tut sich so wenig? Das hat mehrere Gründe. Erhalten Diabetiker das Pharmakon, kann es – wenn auch selten – zu Hypoglykämien (niedrigen Blutglukosewerten) oder Laktatazidosen (Übersäuerungen) kommen. Bei Menschen ohne Typ-2-Diabetes wird die Wirkung als Antidiabetikum plötzlich zur Nebenwirkung. Bei ihnen drohen gefährliche Stoffwechselentgleisungen. Eine randomisierte, placebokontrollierte klinische Studie mit hoch dosierten Metformin-Gaben ließe sich allenfalls bei bekanntem Typ-2-Diabetes realisieren. Hinzu kommt: Viele Papers entstanden in Universitäten oder staatlichen Einrichtungen. „Unter den aktuellen Rahmenbedingungen in Deutschland haben entsprechende Investitionen jedoch zu wenig Aussicht auf Erfolg – Chancen bleiben ungenutzt“, schreibt der BPI. Er fordert besseren Zugriff auf vorhandene Daten, fünf Jahre Unterlagenschutz (also Schutz gegen andere Generika-Hersteller) und bessere Möglichkeiten zur Honorierung. Retrospektive Kohortenstudien mit Metformin gibt es viele. Forschungen im präklinische Bereich bis zur Phase I gehen auch noch gut über die Bühne. Aber danach versanden vielversprechende Ergebnisse, da es ohne Industriepartnerschaft kaum gelingt, größere Studien der Phasen II/III auf die Beine zu stellen. Daran hat sich seit der Erstsynthese von Metformin 1957 wenig geändert.