Die Rezeptfreiheit von Notfallkontrazeptiva mit dem Wirkstoff Levonorgestrel beschäftigt die Gesundheitspolitik. Bundesrat, Experten und Teile der Bundesregierung fordern die Freigabe. Doch Hermann Gröhe lehnt diese mit der Warnung vor einer Debatte „mit Schaum vor dem Mund“ ab.
15. Dezember 2012 – Eine 25-jährige Frau kommt auf einer Bank in einer Seitenstraße in Köln wieder zu sich. Die junge Frau wurde vermutlich mit K.O.-Tropfen betäubt und anschließend vergewaltigt. Als Mutter und Tochter auf Rat der konsultierten Notärztin das Kölner St. Vinzenz Hospital zur Spurensicherung und Verschreibung von Notfallkontrazeptiva aufsuchen, wird eine Behandlung verweigert. Eine gynäkologische Untersuchung und damit einhergehende Beratung für Notfallkontrazeptiva sei nach Anordnung der Ethikkommission unter Rücksprache mit Kardinal Meisner „nicht mit dem katholischen Gedankengut vereinbar“. Auch das Heiliger-Geist-Krankenhaus, ebenfalls von einem katholischen Träger unterhalten, nimmt die traumatisierte Patientin nicht auf. Erst in einem dritten Krankenhaus bekommt sie schließlich die ärztliche Beratung und das Rezept für ein Notfallkontrazeptivum.
Der Fall aus Köln zeigt die Dringlichkeit der durch eine Gesetzesinitiative im Bundesrat angestoßenen Debatte zur Freigabe der Rezeptfreiheit der „Pille danach“. Doch worum geht es eigentlich? Einer der gebräuchlichsten Wirkstoffe in der „Pille danach“ ist Levonorgestrel (LNG). Dieser ist in deutlich geringerer (etwa ein Zehntel) Konzentration auch in üblichen oralen Verhütungsmitteln enthalten. Levonorgestrel wirkt als Gestagen auf die Ausschüttung der gonadotropen Hormone aus der Hypophyse. Insbesondere über die Veränderung des LH-Spiegels wird dann der Eisprung verschoben, eine Befruchtung bleibt aus. Die Wirksamkeit hängt allerdings stark von der Zeit nach dem Koitus ab. Innerhalb der ersten 24h ist die Kontrazeption zu 95 % erfolgreich. Nach 72h ist die Einnahme quasi nutzlos. In Deutschland sind 13 % aller Frauen mindestens einmal in ihrem Leben auf Notfallkontrazeptiva angewiesen. 200.000 Verschreibungen, die Hälfte davon an einem Montag oder Dienstag, werden in Deutschland verzeichnet. Zudem ist zu betonen, dass es sich bei der „Pille danach“ nicht um eine Abtreibungspille handelt. Ist bereits eine Befruchtung erfolgt, bleibt die Einnahme von Levonorgestrel wirkungslos. Diesem Umstand muss bei der ethischen oder politischen Diskussion Rechnung getragen werden.
Dass es sich überhaupt um eine ethische oder politische Frage handelt, verneint Jens Spahn, der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Der Mann, der mit der Äußerung „Es geht hier doch nicht um Smarties“ Aufmerksamkeit erregt hatte, betont, es handele sich um eine reine Sachdebatte. Levanogestrel sei nicht das wirksamste Mittel auf dem Markt zur Verhinderung von Schwangerschaften. Außerdem bestehe ein erhöhtes Thromboserisiko. Beide Aussagen sind für sich nicht falsch, verlieren aber bei näherer Betrachtung ihre Schlagkraft: Wie auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) betont, hat der alternative Wirkstoff Ulipristalacetat (UP) eine höhere Wirksamkeit, ist dafür aber bei Überdosierung deutlich toxischer und zudem auch noch deutlich teurer. Auch das angemahnte Thromboserisiko ist bei der üblichen langfristigen Einnahme der Anti-Baby-Pille deutlich höher als bei einer einmaligen Anwendung eines Notfallkontrazeptivums. Die DGGG stellt heraus: „Nur FrauenärztInnen sind in der Lage, die Einnahmenotwendigkeit zu beurteilen.“ Dies lässt stark daran zweifeln, ob die Argumentation der Fachgesellschaft nicht von wirtschaftlichen Interessen geprägt ist. Sicher ist die Intimität der Beratung an einem Apothekennachtschalter in Frage zu stellen – das aktuelle gynäkologische Beratungsangebot von Notärzten in der Notaufnahme allerdings auch.
Wie viel mehr entspräche es dem Wohl der Patientinnen, den Zugang zu LNG zu erleichtern. Durch eine schnellere Einnahme könnten Patientinnen zuverlässiger die ungewollte Schwangerschaft verhindern. Dadurch würden die traumatisierende Erfahrung einer Abtreibung und damit einhergehende gesundheitliche Risiken für Patientinnen vermeidbar. Insbesondere für Opfer von Gewalt ist es eine Zumutung, um eine Behandlung betteln zu müssen – oder sie im schlimmsten Fall verwehrt zu bekommen. Dies alles ist mit der Freigabe eines Medikaments zu bewerkstelligen, von dem die WHO schon 2010 in einer Studie das geringe Gesundheitsrisiko bewies. Ein Medikament, für das am 14.1.2014 der Expertenausschuss für Verschreibungspflicht des Bundesinstituts für Arzneimittel seine Forderung nach Rezeptfreiheit von 2003 wiederholte und betonte, dass es keine medizinischen Gründen für eine Rezeptpflicht gäbe. Ein Medikament, das in allen europäischen Ländern - außer Deutschland, Italien und Polen - frei verfügbar ist. Im Kontext zum Vorfall in Köln wirken daher auch die Äußerungen des Gesundheitsministers fast schon zynisch: Er fordert einen diskriminierungsfreien Zugang. Gleichzeitig kann man einen Arzt nicht zur Behandlung eines Patienten zwingen, wenn er diese aus ethischen Gründen verweigert. Einen wirklich diskriminierungsfreien Zugang wird es nur geben, wenn die Frauen selbst über die Einnahme der „Pille danach“ entscheiden können – und nicht die Ethik- und Moralvorstellungen des behandelnden Arztes.
Es hat nicht den Anschein, dass hier eine Sachdebatte geführt wird. Die Argumentation der DGGG wirkt stark von monetären Motiven getrieben, die der CDU/CSU von konservativer Ideologie. Die „Pille danach“ mit dem Wirkstoff Levonorgestrol hat bei mehreren unabhängigen Studien ihre Tauglichkeit hinsichtlich Wirkung, Nebenwirkung und Toxizität unter Beweis gestellt. Wer weiterhin medizinische Gründe für die Rezeptpflicht aufrechterhält, sollte seine Motivation dafür überprüfen. Selbst wenn man in diesem Thema eine ideologische Debatte erlauben würde, muss man den Gegnern der Freigabe folgendes entgegenhalten: Erfahrungen in 19 europäischen Ländern zeigen, dass die Freigabe weder zu einer verstärkten Nutzung von Notfallkontrazeptiva als generelles Verhütungsmittel, noch zu einer Veränderung des Sexualverhaltens oder einem Anstieg der Geschlechtskrankheiten geführt hat. Seit 1994 ist das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ein Menschenrecht. Die Freigabe von Levonorgestrel als Notfallkontrazeptivum mit einer Beratung in der Apotheke dürfte dieses Recht in Deutschland ein Stück weit besser umsetzen. Ob die Freigabe durch politische Ideologie und wirtschaftliche Interessen verhindert werden darf, ist fragwürdig. Fakt bleibt: LNG ist sicher, wirksam und arm an Nebenwirkungen. Dies macht es zu einem idealen Wirkstoff zur Notfallverhütung von Schwangerschaften. Es grenzt an eine Bevormundung und Geringschätzung von Frauen, die Einnahme eines solchen Medikaments mit so großen Hürden zu versehen. Die größte davon ist vielleicht nicht einmal die organisatorische, einen Arzt in Bereitschaft zu finden. Viel höher erscheint die Barriere, einem Arzt den Vorfall und die Gründe für die gewünschte Schwangerschaftsverhütung zu erklären. Dies steht dann unter dem Urteil des Arztes, welches manchmal, wie das Beispiel in Köln zeigt, selbst unter prekären Bedingungen negativ ausfällt. Dieser Gefahr, in einer Notsituation abgelehnt zu werden, darf keine Frau ausgesetzt sein. Es ist stark anzunehmen, dass die Frauen in Deutschland, wie auch im gesamten europäischen Ausland, verantwortungsvoll mit diesem Medikament umgehen können. Und dabei wird ihnen klar sein, dass es sich eben nicht um Smarties handelt.