Kolumbien ist unter Neurologen zum Forschungsterrain geworden. In Bergdörfern der Region treffen sie ungewöhnlich viele Patienten mit frühen Alzheimerformen an. Dort erproben Neurologen innovative Pharmakotherapien.
Antioquia, Kolumbien. Das große Vergessen beginnt für viele Menschen bereits am Ende ihres vierten Lebensjahrzehnts oder noch früher. Mit durchschnittlich 47 Jahren erreichen sie das Vollstadium – und kaum eine Familie, die keine schwerkranken Patienten zu pflegen hat. Sie alle leiden unter frühen Alzheimerformen, bekannt als „Early Onset Alzheimer´s Disease“. Bei zahlreichen Einwohnern fanden Humangenetiker Mutationen in einem Gen, das für ein Transmembranprotein aus der Familie der Präseniline codiert. PSEN1 E280A, so die Abkürzung, wird historisch und geographisch mit spanischen Eroberern in Verbindung gebracht. Weitere Mutationen, etwa PSEN2-Gen, sind ebenfalls bekannt. Bei transgenen Mäusen mit entsprechendem Defekt häuften sich Beta-Amyloid-Peptide im Gehirn an – eine hinlänglich bekannte Tatsache. In Kolumbien verbreitete sich der erbliche Defekt, lokalisiert auf dem Chromosom 14, über mehr als 300 Jahre innerhalb weit verzweigter Clans. Jetzt zieht es Wissenschaftler in die Region, um mehr zu erfahren. Längst haben sie über Patientenakten und Stammbäume besonders gefährdete Familien identifiziert.
Das Grundproblem: Seit langer Zeit versuchen Molekularbiologen, gegen Beta-Amyloid-Peptide therapeutisch vorzugehen. Doch Francesco Panza, Italien, zog unlängst ein pessimistisches Resümee. Zusammen mit Kollegen recherchierte er in der Literatur nach klinischen Studien, die sich mit Immuntherapien gegen störende Ablagerungen im Gehirn befassen. AN1792, ein Impfstoff gegen Beta-Amyloide, führte bei sechs Prozent aller Patienten zu Meningoenzephalitiden und schied damit aus. Weitere Phase-III-Studien mit Patienten, die an milden bis mittelschweren Formen litten und den humanisierten, monoklonalen Antikörper Bapineuzumab erhielten, waren ebenfalls „enttäuschend“, kommentieren die Autoren. Und Solanezumab, der nächste Kandidat, scheiterte in zwei Phase-III-Studien genauso kläglich. Allerdings lieferten weitere Untersuchungen speziell bei Patienten mit leichtem Verlauf ermutigende Resultate. Aktive Impfstoffe der zweiten Generation wie ACC-001, CAD106 oder Affitope AD02 werden bei Hochrisikopatienten getestet, die noch nicht erkrankt sind.
Jetzt sorgt eine Präventionsstudie mit Crenezumab für weltweite Aufmerksamkeit. „The Lancet Neurology“ kommentierte, Kolumbien sei zum „Zentrum der präklinischen Alzheimerforschung“ geworden. Kein Wunder, hat doch der kolumbianische Neurologe Francisco Lopera über mehr als 25 Jahre hinweg Daten zusammengetragen. Derzeit liegen genetische Informationen zu 5.000 lebenden Personen vor. Jetzt erhalten 300 Probanden zwischen 30 und 60 Jahren, bei denen sich noch keine Symptome bemerkbar gemacht haben, entweder ein Placebo oder Crenezumab. Ihr Risikoprofil wurde zuvor über Gentests bestimmt. Für entsprechende Arbeiten stellen das Banner Alzheimer's Institute, Genentech und die US-amerikanischen National Institutes of Health rund 100 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Falls das Verum, in der Prodromalphase verabreicht, Plaques wirksam verhindern würde, hätten Forscher einen Durchbruch erzielt, ohne – wie bei der normalen Verlaufsform – jahrzehntelang auf Resultate zu warten. In Antioquia müssen Neurologen nur zwei bis fünf Jahre Geduld haben, um Resultate zu erhalten und gegebenenfalls Zweifler der Amyloid-Hypothese eines Besseren zu belehren. Über ethische Aspekte mag aber niemand sprechen.
Hinter hoch dotierten Programmen steckt die Sorge vieler Industrienationen, Alzheimer nicht mehr in den Griff zu bekommen. Kürzlich errechneten Forscher der Londoner Alzheimer's Disease International, die Zahl an Betroffenen könne sich bis 2050 verdreifachen – von derzeit 35 auf 115 Millionen. Nicht alle Wissenschaftler teilen die pessimistische Prognose. So berichtet Carol Brayne, sie arbeitet am Cambridge Institut of Public Health, die Prävalenz von Demenzerkrankungen sei generell in den letzten 20 Jahren zurückgegangen. Ob Morbus Alzheimer ebenfalls darunter fällt, lässt sich laut Kaare Christensen aus dem dänischen Odense aber bezweifeln. Ärzten gelingt es immer besser, Hypertonien und Hypercholesterinämien in den Griff zu bekommen – und Menschen profitieren von besseren kognitiven Fähigkeiten bis in späte Lebensjahre. Alzheimer-Patienten werden davon nur wenig haben. Grund genug für Gesundheitsminister der großen Industriestaaten und Russlands, mehr Geld in die Forschung zu investieren. Die Europäische Union stelle laut Gesundheitskommissar Tonio Borg 1,2 Milliarden Euro in den nächsten zwei Jahren für Projekte der Gesundheitsforschung bereit, auch für Alzheimer. Gemeinsam hoffen Politiker spätestens bis zum Jahr 2025 auf den großen Durchbruch – vielleicht aus Kolumbien.