Ein juristischer Schlagabtausch statt medizinischer Argumente: Seit Jahren prozessiert Orthokin® gegen die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie. In der Sache geht es um kritische Stellungnahmen zum Therapieverfahren – und um eine veritable Lücke im Arzneimittelgesetz.
Das Orthokin®-Verfahren der Orthogen AG gilt als umstrittene Therapieoption bei entzündlichen Prozessen orthopädischer Natur. Ärzte nehmen Patienten Blut mit einer speziellen Spritze ab, die chemisch aktivierte Glasperlen enthält. Nach 24-stündiger Inkubation wird aus der Blutprobe Serum (Autologous Conditioned Serum, ACS) gewonnen und zum Beispiel in ein entzündetes Gelenk injiziert.
Laut einer älteren Veröffentlichung führt die Inkubation von Blutproben mit Chromsulfat unter anderem zur vermehrten Produktion von Interleukin-1-Rezeptor-Antagonisten. IL-1Ra, so die Abkürzung, hemmt Interleukin-1 aus entzündlichen Prozessen. „Der Methodenteil dieser Publikation lässt nicht hinreichend nachvollziehen, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind“, kritisieren Ärzte der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) bereits 2009 in einer Stellungnahme. Sie fanden methodische sowie statistische Mängel. Und weiter: „Die Schlussfolgerung der Autoren, dass durch diese Methode ein mit antientzündlichen Zytokinen angereichertes Serum gewonnen werden kann, welches einen 'therapeutischen Nutzen zur Behandlung verschiedener entzündlicher und degenerativer Erkrankungen' besitzt, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage.“ Vielmehr halten Rheumatologen die Zusammensetzung des Serums für „unbekannt“ und Effekte auf die intraartikuläre Entzündungsprozesse für „nicht abschätzbar“. Eine weitere Studie bescheinigte Orthokin®-Injektionen zwar Erfolge, um Schmerzen zu lindern. Allerdings erreichte der Unterschied zu Placebo „nicht das statistische Signifikanzniveau“. Darüber hinaus seien in seltenen Fällen auch bakterielle Infektionen möglich.
Nach entsprechenden Aussagen zog Orthogen bereits 2009 vor den Kadi. Allerdings verklagte der Hersteller nicht die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie als eingetragenen Verein, sondern vielmehr alle 16 Autoren der Therapiekommission auf Unterlassung beziehungsweise Widerruf ihrer Aussagen. Plötzlich stehen Fachärzte selbst wegen kritischer Äußerungen am Pranger – ein Versuch der Einschüchterung? Es folgten Odysseen durch sämtliche Instanzen. Das Landgericht Hamburg (Az. 325 O 387/09), das Hanseatischen Oberlandesgericht (Az. 7 U 55/10) und zuletzt der Bundesgerichtshof (Az. VI ZR 340/11) stellten sich auf die Seite von Rheumatologen. Grund genug für die DGRh, ihre ursprüngliche Stellungnahme erneut online verfügbar zu machen. Ende 2013 teilte Orthogen mit, Verfassungsbeschwerde einzulegen (Az. 1 BvR 2951/13). Eine erneute Klage gegen die Darstellung im Internet folgte.
Zum Hintergrund: In einer Stellungnahme kritisieren Verantwortliche des Orthokin®-Verfahrens, die DGRh berufe sich nur auf Publikationen von Baltzer, Meijer und Yang. Vielmehr lägen „30 nationale und internationale Publikationen zur Wirkung, Sicherheit und Funktionsweise von Orthokin vor“. Apropos Sicherheit: Dr. Jürgen Peper, Managing Directorvon Orthokin®, erklärt, seit 1998 seien „mehr als 400.000 Injektionen an Gelenken, Muskeln, Sehnen und Wirbelsäule am Menschen“ durchgeführt worden. „Dabei wurden insgesamt 35 unerwünschte Nebenwirkungen unserer Firma mitgeteilt, bei der Schwellung und Schmerz für einen kurzen Zeitraum nach Injektion beobachtet wurden. In keinem Fall kam es zu einem schwerwiegenden Ereignis im Sinne des Medizinproduktegesetzes (MPG). Insbesondere wurden keinerlei Infekte nach Injektion mitgeteilt bzw. beobachtet.“
Hinsichtlich des therapeutischen Nutzens nennt Peper in einer Mitteilung mehrere Publikationen als „Meilensteine in der klinischen Entwicklung“: Cordelia Becker, Bochum, behandelte zusammen mit Kollegen insgesamt 84 Patienten, die an Radikulopathien litten. Sie erhielten Orthokin®, Triamcinolon (fünf Milligramm) beziehungsweise Triamcinolon (zehn Milligramm). Bei allen Betroffenen verbesserten sich die Beschwerden signifikant, schreiben die Autoren. Ab der zwölften Woche sprechen sie sogar von einer „Überlegenheit“ der Orthokin®-Therapie gegenüber Triamcinolon, gemessen an der visuellen Analogskala (VAS) zur Beurteilung von Schmerzen. Statistisch signifikante Unterschiede von Orthokin® wurden im Vergleich zur Gruppe mit fünf Milligramm Triamcinolon erst am Ende der Studie beobachtet. Kollegen aus Deutschland und aus der Schweiz sprechen in einem Brief an den Herausgeber von „fundamentalen Mängeln“. Sie kritisieren niedrige Triamcinolon-Gaben auf „Placebo-Niveau“ ohne Kontrolle durch bildgebende Verfahren. Auch wurden in der Orthokin®-Gruppe weder IL-1Ra-Konzentrationen noch die zur Injektion verwendeten Volumina angegeben. Die von Orthogen erwähnte Gonarthrose-Studie mit 376 Patienten ist ebenfalls nicht frei von Kritik. Unter anderem war der Zweitautor zeitweise für Orthokin® respektive Orthogen tätig. Auch spielen Placebo-Effekte bei Arthrose eine große Rolle, ohne dass die Problematik hinlänglich diskutiert wird.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Behandlungsmethode nach wie vor angreifbar. Juristisch stehen die Chancen für DGRh-Kollegen ebenfalls gut – nach entsprechenden Urteilen der Vorinstanzen. Das ändert am grundlegenden Problem jedoch wenig. Während Hersteller von Fertigarzneimitteln etliche Studien vorlegen müssen, um ihre Präparate zuzulassen, unterstehen Orthokin-Spritzen dem Medizinproduktegesetz. Nach dem Arzneimittelgesetz stellen ACS-Injektionen „individuelle Zubereitung für einen einzelnen Patienten“ nach ärztlicher Verschreibung dar, ohne dass methodisch hochwertige Belege für Nutzen und Verträglichkeit zu erbringen sind. Zeit für den Gesetzgeber, über entsprechende Sachverhalte nachzudenken.