Je mehr Medikamente Patienten verordnet bekommen, desto größer ist das Risiko nicht erwünschter Wirkungen. Forscher zeigen nun in einer Studie, dass vor allem ältere Patienten mit Polypharmazie zahlreiche Medikamente einnehmen, deren Nutzen nicht gesichert ist.
Mit dem Alter nehmen Patienten nicht nur immer mehr Medikamente ein, sondern es steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass viele dieser Medikamente ohne wissenschaftliche Begründung verschrieben werden. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler der Universität Witten/Herdecke, die im Rahmen einer Pilotstudie die Medikamentenlisten von 169 älteren Patienten aus 22 allgemeinmedizinischen Praxen durchforstet haben. Die Hausärzte rekrutieren die Probanden konsekutiv, das heißt die ersten Patienten, die älter als 65 Jahre waren und mindestens fünf Arzneien pro Tag konsumierten, wurden ohne Ausnahmen in die Studie aufgenommen. Wie die Forscher um Professor Andreas Sönnichsen in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin und im International Journal for Research in Primary Care berichten, waren jedem der Studienteilnehmer im Durchschnitt neun verschiedene Medikamente täglich verordnet worden. Bei rund 2,7 Medikamenten pro Patient fanden Sönnichsen und seine Mitarbeiter keine wissenschaftliche Begründung für die Verordnung, bei 93,5 Prozent der Probanden lag mindestens eine unbegründete Verschreibung vor. „Kein Wunder, denn die Hausärzte der betroffenen Patienten sind überfordert“, sagt Sönnichsen, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der Universität Witten/Herdecke. „Ihnen fehlt die Zeit und oft auch das nötige Fachwissen, die langen Medikamentenlisten zu überprüfen, mit denen ihre Patienten von Fachärzten zurückkehren. Obwohl es ihre Aufgabe wäre, könnten sie so nicht entscheiden, welche Medikamente wirklich erforderlich seien und welche nicht.
Laut Sönnichsen sind rund ein Viertel der über 65-Jährigen einer Polypharmazie ausgesetzt, bei den über 75-Jährigen nimmt der Anteil der davon Betroffenen nochmals deutlich zu. Mit steigender Einnahme verschiedener Medikamente nimmt jedoch das Risiko von unerwünschten Interaktionen deutlich zu. So gab es bei 59 Prozent der Studienteilnehmern relevante Wechselwirkungen zwischen den verschriebenen Medikamenten, bei vier Probanden entdeckte Sönnichsens Team sogar Kombinationen von Arzneien, deren gleichzeitige Einnahme auf jeden Fall vermieden werden sollte. Darüber hinaus traten bei 56 Prozent der untersuchten Patienten Dosierungsfehler auf und bei 37 Prozent tauchten Medikamente auf, die älteren Menschen nicht verordnet werden sollten. „Hausärzte müssten sich die Zeit nehmen können, um etwaige Fehler oder unnötige Verschreibungen zu entdecken“, sagt Sönnichsen. „Laut Statistik hat ein Hausarzt aber nur sechs Minuten Zeit für einen Patienten. Das reicht natürlich nicht aus, um sich einen ausreichenden Überblick über die Medikamentenliste des Patienten zu verschaffen.“
Ganz so schlimm scheint die Lage für Ärzte nicht zu sein: „Mittlerweile kann sich jeder Hausarzt auf seinen Computer eine Software laden, die bei jeder Verordnung die möglichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten des Patienten anzeigt“, sagt Professor Petra Thürmann, Direktorin des Philipp-Klee-Instituts für klinische Pharmakologie am HELIOS Klinikum Wuppertal. „Allerdings leiden nur wenige Patienten von Anfang an unter den angezeigten Interaktionen und so müssten die Hausärzte diesen Aspekt immer wieder überprüfen, selbst bei Medikamenten, die die Patienten schon seit langem einnehmen.“ Um die Hausärzte zu entlasten, könnten Apotheker einen Teil der Aufgaben übernehmen: So gibt es Modellprojekte, in deren Rahmen Apotheker über ein EDV-Netz sofort wissen, welche Medikamente ein Patient bisher erhalten hat, wenn dieser in die Apotheke kommt. Thürmann ist davon nicht wirklich überzeugt: „Apotheker können zwar aufgrund ihrer pharmakologischen Ausbildung die möglichen Wechselwirkungen erkennen, aber sie können nicht beurteilen, ob die Dosierungen der Medikamente korrekt gewählt sind. Dafür fehlen ihnen momentan die Patientenwerte – zum Beispiel bezüglich der Nierenfunktion, die gerade bei älteren Menschen oftmals eingeschränkt ist.“
Selbst wenn es gelingen würde, bei der Medikamentenverordnung offensichtliche Fehler zu vermeiden, stellt sich die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, wenn Patienten auf Dauer eine Vielzahl von Medikamenten einnehmen. Deswegen befürwortet Thürmann, dass sich Hausarzt und Patient einmal im Jahr für ein 30-minütiges Gespräch zusammensetzen und eine Momentaufnahme machen, welche Medikamente noch nötig sind: „Das wäre eine Möglichkeit, die unwichtigen Medikamente auszusortieren und die Anzahl der verordneten Arzneien zu reduzieren“, sagt Thürmann. Neben Medikamenten, die überhaupt keinen Nutzen für einen bestimmten Patienten haben, könnte man auch solche weglassen, von denen dieser Patient nur wenig profitiert: Sönnichsen könnte sich vorstellen, dass man dafür die so genannte Anzahl der notwendigen Behandlungen heranzieht – ein Maß, das angibt, wie viele Patienten mit einem Medikament behandelt werden müssen, um das gewünschte Therapieziel zu erreichen. „Wenn bei einem Medikament diese Zahl beispielsweise bei etwa 100 liegt, profitiert nur jeder 100. Patient von der Behandlung mit diesem Medikament“, sagt Sönnichsen. „Ein solches Medikament könnte man bei Patienten mit Polypharmazie weglassen.“
Er und seine Mitarbeiter sind gerade dabei, ein Computerprogramm für die 50 häufigsten Substanzklassen zu entwickeln, das dem Hausarzt vorschlägt, welche Arzneien er bei einem Patienten am ehesten weglassen könnte. Im Sommer diesen Jahres möchte Sönnichsen eine randomisierte, kontrollierte Studie starten, die zeigen soll, dass die neue Software tatsächlich dabei hilft, die Anzahl der verschriebenen Medikamente bei älteren Menschen zu senken: „Über einen Zeitraum von zwei Jahren wollen wir bei den Studienteilnehmern beobachten, ob dadurch Mortalität und die Zahl ihrer stationären Aufnahmen weniger werden.