Klagen Patienten nach Unfällen oder Operationen unter ungewöhnlich starken Schmerzen, handelt es sich möglicherweise um das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS). Die Diagnostik ist problematisch: Häufig wird es zu spät erkannt oder dient als Verlegenheitsdiagnose.
Bei Hans G. (44) traten nach einer harmlosen distalen Radiusfraktur unerklärlich starke Schmerzen auf. Später kamen Schwellungen, ein Ödem und deutliche Hitzeentwicklung auf der betroffenen Seite mit hinzu. Ärzte konnten diese Beschwerden nicht anhand des Traumas erklären. Vielmehr handelt es sich um das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS). Als Inzidenz geben Forscher 5,46 bis 26,2 Fälle auf 100.000 Personenjahre an. Basis der Zahlen sind mehrere populationsbasierte Studien.
Entzündung beim CRPS. Bild: Wikipedia / Patientenvereniging CRPS, CC BY SA 3.0 Patienten klagen in der betroffenen Extremität über Hyperalgesien, Allodynien, Schwäche, Rötung und Hitze der Haut, Ödembildung, Tremor, Myoklonien oder Veränderungen beim Nagel- und Haarwachstum. Diese Symptome liefern einen ersten Hinweis. „Erfahrungsgemäß wird das Vorliegen eines CRPS in der Frühphase eher verkannt und dient bei unspezifischen, schmerzhaften Verläufen nicht selten als Verlegenheitsdiagnose“, kritisiert Privatdozent Dr. Florian Brunner in einem Übersichtsartikel. Er forscht an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Bei der Diagnostik kommen heute leicht modifizierte Budapest-Kriterien zum Einsatz. Der Name erinnert an eine Konsensus-Konferenz in Ungarns Hauptstadt. Zur Diagnose müssen folgende vier Punkte erfüllt sein:
Laboruntersuchungen, Bildgebungen und neurophysiologische Untersuchungen seien Brunner zufolge nicht nötig. Fachgesellschaften unterscheiden im nächsten Schritt verschiedene Formen:
Chronische Formen gehen mit besonders schlechten Prognosen einher. Deshalb sollte nach Abschluss der Diagnostik umgehend mit der Therapie begonnen werden. Die deutsche Leitlinie spricht von Erfolgen in deutlich mehr als jedem zweiten Fall. Ungerechtfertigte invasive Maßnahmen und psychische Komorbiditäten können die Chronifizierung fördern. Die Autoren der deutschen Leitlinie schlagen deshalb folgenden Therapiealgorithmus vor. Zuallererst sollten Ärzte ihrem Patienten CRPS detailliert erklären. Die Therapietreue ist ein wesentliches Erfolgskriterium. Zur eigentlichen Behandlung kommen als Basismaßnahmen Physio-/Ergotherapie und Pharmakotherapie neuropathischer Schmerzen gemäß separater Leitlinie in Betracht. Bei Hinweisen auf entzündliche Symptome machen Bisphosphonate oder Steroide Sinn. Bleibt der Erfolg aus, lohnt es sich, intensiv nach psychischen Komorbiditäten zu fahnden und diese zu therapieren. Im Einzelfall sind einmalige stationäre Dauerinfusionen von Ketamin nach individueller Titrierung möglich. Und nicht zuletzt warnen die Leitlinienautoren vor überflüssigen invasiven Therapien. Brunner nennt noch Lidocain und Capsaicin zur Behandlung von Allodynien. Bei entzündlichen Vorgängen rät er zu topischem Dimethylsulfoxid beziehungsweise systemischem N-Acetylcystein. Für vasomotorische Störungen stehen α-adrenerge Blocker oder Calciumantagonisten zur Verfügung. Baclofen oder Benzodiazepine können bei Tremor, Myoklonien beziehungsweise Dystonien zum Einsatz kommen. Zur Prophylaxe nach Radiusfrakturen ist Ascorbinsäure im Gespräch (500 bis 1.000 mg täglich über 50 Tage).
Kausale Ansätze gibt es derzeit nicht. Umso intensiver versuchen Wissenschaftler, den eigentlichen Krankheitsprozess zu verstehen. In der Literatur werden derzeit drei verschiedene Mechanismen diskutiert. Sie erklären, warum die genannten Pharmaka wirken. Zu Beginn gelten neurogene Entzündungsreaktionen als recht wahrscheinlich. Die Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine könnte Vasodilatationen, aber auch Proteinextravasationen erklären. Es kommt zur Schwellung, Erwärmung und Verfärbung betroffener Gliedmaßen. Im späteren Krankheitsverlauf werden mehr Gefäßrezeptoren exprimiert, was die erhöhte Sensitivität auf Noradrenalin erklärt. Die Folgen sind chronische Vasokonstriktionen und eine niedrigere Hauttemperatur. Langfristig treten neuroplastische Veränderungen im motorischen Cortex auf. Dieser Vorgang ist von der Schmerzchronifizierung her bekannt. Von der Untersuchung pathophysiologischer Mechanismen erhoffen sich Forscher neue Möglichkeiten der Intervention.