Die von der CSU angestoßene Debatte über die sogenannte "Armutszuwanderung" ist in vollem Gange. Unter den Einwanderern befinden sich auch Ärzte aus Bulgarien und Rumänien. Kann es sich Deutschland überhaupt leisten, auf sie zu verzichten?
„Wer betrügt, der fliegt!“, warnt derzeit der Parteichef der CSU, Horst Seehofer. Gemeint sind Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die seit dem 1. Januar in Deutschland Arbeit suchen dürfen und auch Anspruch auf Sozialleistungen haben. Seehofer und seine Partei schüren die Debatte über die "Welle der Armutszuwanderung", die in diesem Jahr über Deutschland hereinschwappen und die Sozialkassen schwer belasten soll.
Angehörige anderer Parteien bemühen sich hingegen um Schadensbegrenzung und warnen davor, das Problem als Massenphänomen zu dramatisieren. „Wir haben es nicht mit einer flächendeckenden Herausforderung zu tun. Die Schwierigkeiten konzentrieren sich auf etwa ein Dutzend große Städte“, so der Oberbürgermeister von Nürnberg, Ulrich Maly. Und dort seien die sozialen Probleme auf einige wenige Stadtteile begrenzt.
Das neue Jahr ist bereits 13 Tage alt. Doch nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) seien nur punktuell Anzeichen für eine Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland zu spüren gewesen. Der BA-Vorstand Heinrich Alt äußerte zuversichtlich: „Wir rechnen damit, dass unter den Neuzuwanderern jeder zweite eine gute Ausbildung mitbringt.“ Auch der Mikrozensus von 2011 bestätigt, dass nicht nur Menschen ohne Job zu uns kommen: Demnach haben 33 Prozent der Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien eine Lehre oder Ausbildung abgeschlossen, 21 Prozent besitzen einen Hochschulabschluss. 43 Prozent allerdings sind ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Dennoch liegt die Arbeitslosenquote in dieser Zuwanderungsgruppe unter dem Bundesdurchschnitt. Mitte 2013 waren 7,4 Prozent der Bulgaren und Rumänen in Deutschland arbeitslos gemeldet. Der Bevölkerungsdurchschnitt liegt bei 7,7 Prozent, die Arbeitslosenquote der gesamten ausländischen Bevölkerung mit 14,7 Prozent sogar noch weit höher.
Ob Deutschland tatsächlich auf Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien verzichten kann, lässt sich bei einem Blick auf die Ärztestatistik der Bundesärztekammer bezweifeln. Demnach waren im Jahr 2012 insgesamt 28.310 ausländische Ärzte in Deutschland beschäftigt. Die meisten von ihnen kamen aus Rumänien, nämlich 2.704. Auf Platz zwei liegt das finanziell gebeutelte Griechenland mit 2.258 Ärzten. Und immerhin 1.023 bulgarische Ärzte unterstützten die Patienten hierzulande in der medizinischen Versorgung. "Deutschland ist aufgrund des Ärztemangels in bestimmten Regionen und Bereichen auf die ausländischen Ärzte angewiesen", sagte Hans-Jörg Freese, Sprecher der Ärztegewerkschaft Marburger Bund.
Deutsche Ärzte, die sich wegen der hohen Arbeitsbelastung oder der schlechten Vereinbarkeit von Familie und Beruf dazu entschließen, im Ausland zu arbeiten, hinterlassen Lücken, die von den ausländischen Kollegen geschlossen werden. Roland Stahl, Pressesprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), äußerte sich dazu gegenüber DocCheck: „Bis zum Jahr 2020 werden rund 50.000 niedergelassene Haus- und Fachärzte aus der medizinischen Versorgung altersbedingt ausscheiden. Insbesondere in ländlichen Regionen wird es schwierig werden, frei werdende Arztsitze neu zu besetzen.“ Man müsse vor allem den medizinischen Nachwuchs für die Niederlassung begeistern, so Stahl weiter. „Im Medizinstudium wollen wir die Aspekte der Niederlassung frühzeitig verankert wissen. Viele Operationen, die früher im Krankenhaus stattfanden, erfolgen mittlerweile überwiegend ambulant.“ Doch im Medizinstudium spielten die Belange der ambulanten Versorgung derzeit noch eher eine untergeordnete Rolle, so Stahl. „Gute Mediziner aus dem Ausland sind natürlich ebenfalls herzlich willkommen, in Deutschland zu arbeiten. Doch vergessen darf man dabei nicht, dass viele europäische Nachbarn vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie wir: In einer sich verändernden Bevölkerung nehmen chronische Krankheitsbilder zu – und damit steigt die Nachfrage nach medizinischen Leistungen. Das heißt: Alle Länder benötigen Haus- und Fachärzte.“
Dass die Ärztewanderung auch Probleme mit sich bringt, liegt auf der Hand. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, warnt: "Das darf nicht dazu führen, dass sich die Arbeitsbedingungen in Kliniken und Praxen verschlechtern und zum Beispiel künftig Ärzte zu Dumpinglöhnen arbeiten müssen.“ Zum Schutz der Patienten müsse die ärztliche Versorgung auch mit ausländischen Kräften auf gleich gutem Niveau bleiben und die Verständigung zwischen Ärzten und Patienten reibungslos verlaufen. Daher setze sich die Bundesärztekammer für Sprachtests ein, die vor Erteilung der Approbation durch die Behörden von den Bewerbern zu absolvieren seien.
Doch auch arme Einwanderer einfach wegzuschicken, ist für Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau keine Option. Dabei gehört Dortmund zu den Städten, die besonders stark von Armutszuwanderung betroffen sind. Gegenüber „Focus Online“ sagte er: „Wir gehören zur Europäischen Union und haben dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien zugestimmt – auch die CSU. Jetzt zu sagen, wir machen die Grenzen dicht, ist an Phantasielosigkeit nicht mehr zu überbieten. Stattdessen sollte man überlegen, wie man den Regionen, die besonders betroffen sind, helfen kann.“