In Ungarn entbinden Ärzte ein Baby - drei Monate nach dem Hirntod der Mutter. Ein riskantes Unterfangen, das etliche Diskussionen ausgelöst hat. Wir haben uns des schwierigen Themas angenommen und auch Medizinstudenten dazu befragt.
Die Diagnose Hirntod ist endgültig. Für viele Menschen ist sie schwer zu verstehen und mit Unsicherheit verbunden. Denn auf den ersten Blick unterscheidet sich ein hirntoter Mensch äußerlich nicht von einem tief bewusstlosen Menschen. Die Hautfarbe ist rosig, er wird beatmet, der Brustkorb hebt und senkt sich, auch das Herz schlägt. Nur die Intensivmedizin macht es möglich, Kreislauf, Herzschlag, Sauerstoffversorgung des Blutes, Leber- und Nierenfunktion sowie die Atmung für eine gewisse Zeit aufrecht zu erhalten, nachdem das Gehirn für immer ausgefallen ist. Eine Rückkehr ins Leben lässt sich aber nach medizinischer Ansicht in diesem Stadium nicht mehr erreichen. Die zweifelsfreie Feststellung des Hirntodes gilt daher auch als offizieller Todeszeitpunkt. Doch Tod und Leben liegen näher beieinander als man glaubt. Denn hirntote Frauen können noch Kinder auf die Welt bringen und so ein neues Leben ermöglichen. Vor kurzem erst gelang es ungarischen Ärzten, das Kind einer hirntoten Frau zur Welt zu bringen. Man fragt sich, ob es sich dabei um eine medizinische Meisterleistung oder die Überschreitung einer ethischen Grenze handelt. Ob die Ärzte Helden sind, die das Leben eines Ungeborenen retten oder ob sie sich zu sehr in das Leben einmischen, das eigentlich Mutter Natur bestimmt.
Wie wird eigentlich die Diagnose Hirntod gestellt? Und was bedeutet sie? Im Studium lernt man, dass es zunächst einmal das Ziel einer Hirntoddiagnostik ist, ein zweifelsfreies Bild vom Zustand des Patienten zu bekommen. Besteht auch nur der geringste Anhaltspunkt für noch vorhandene Gehirnleistungen, tun Intensivmediziner alles dafür, um das Leben des Patienten zu retten. Vor Beginn einer Hirntoddiagnostik müssen auch alle anderen Ursachen für eine tiefe Bewusstlosigkeit des Patienten ausgeschlossen werden. Diese können unter anderem Vergiftungen, dämpfende Wirkung von Medikamenten, schwere Unterkühlung oder ein Kreislaufschock sein. Zeigt sich trotz aller intensiven Bemühungen, dass das Gehirn unwiderruflich nicht mehr arbeitet, stellen zwei erfahrene Ärzte aus den Fachgebieten Intensivmedizin, Anästhesie, Neurologie oder Neurochirurgie unabhängig voneinander den Hirntod fest. Angehörige dürfen die Untersuchungen zur Hirntoddiagnostik nach Erläuterungen durch den Arzt übrigens beobachten. Die klinische Untersuchung auf Hirntod umfasst den gleichzeitigen Nachweis, dass alle Hirnstammreflexe und die Spontanatmung ausgefallen sind. Die Hirnstammreflexe sind bei bewusstlosen Patienten auslösbar, bei Hirntoten jedoch nicht. Zu diesen Reflexen zählen beispielsweise der Pupillenreflex, der okulozephale Reflex, der Hornhautreflex, der Würge- und Hustenreflex sowie Schmerzreaktionen im Gesicht. Deuten alle fünf Reflexprüfungen auf einen Hirntod hin, wird die Spontanatmung überprüft. Das unbewusst ablaufende Atmen ist ein lebenswichtiger Reflex. Wird die maschinelle Beatmung ausgestellt, steigt durch den Verbrauch des Sauerstoffs der Kohlendioxidgehalt im Blut. Dadurch wird sofort das Atemzentrum im Gehirn aktiviert, das einen Atemzug auslöst. Setzt die Eigenatmung nicht ein, liegt ein kompletter Ausfall des Atemzentrums vor. Diese einmalige Untersuchung reicht jedoch nicht aus, um den Hirntod festzustellen. Je nach Art der Hirnschädigung muss der Patient zwölf bis 72 Stunden genau beobachtet werden. Danach erfolgt eine zweite Untersuchung der Hirntodzeichen, oder es werden zusätzliche apparative Untersuchungen gemacht. Dazu zählen ein EEG, evozierte Potentiale von den Hör- und Sensibilitätsbahnen in das Gehirn (AEP und SEP), die Perfusionsszintigrafie, Angiografie und die Doppler-Sonografie. So lassen sich Aussagen über Gehirnaktivität und Hirndurchblutung treffen. Ein eindeutiges Zeichen für den Hirntod ist das komplette Fehlen einer Durchblutung des Gehirns und ein Nulllinien-EEG. Wichtig ist, dass die beiden untersuchenden Ärzte alle Ergebnisse der Hirntoddiagnostik in einem vorgegebenen Protokoll dokumentieren. Erst bei zweifelsfreier Feststellung des Hirntods wird eine Todesbescheinigung ausgestellt.
Das für viele Menschen unheimlichste Detail dabei ist: hirntoten Menschen dürfen offiziell nach Feststellung ihres Todes Organe entnommen werden. Hier wird Ärzten vieles unterstellt und manche fürchten sich vor einer Organentnahme, da sie denken, dass der Tod womöglich doch noch nicht eingetreten ist. Doch die Angst ist völlig unbegründet, denn hierfür gibt es Schutzmaßnahmen: Die beteiligten Ärzte müssen unabhängig sein und dürfen weder an der Transplantation beteiligt sein noch einem Transplantationschirurgen unterstehen, um den Schutz vor Missbrauch zu gewährleisten. Außerdem wird durch die strengen Kriterien zur Feststellung des Hirntods gesichert, dass Menschen auch wirklich tot sind, wenn ihnen die Organe entnommen werden. Nach Feststellung des Hirntods befragen die behandelnden Ärzte zudem die Angehörigen zunächst, ob diese einer Organspende zustimmen, sofern der Gestorbene selbst keinen Organspendeausweis ausgefüllt hat. Erst danach wird ein Patient, der nach Auffassung der behandelnden Ärzte für eine Organspende infrage kommt, dem zuständigen Transplantationszentrum oder der Deutschen Stiftung für Organtransplantation (DSO) gemeldet.
Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass hirntote Menschen als Organspender dienen. Doch im Juli letzten Jahres geschah etwas ganz und gar Ungewöhnliches, das weltweit Aufsehen erregte. Ärzte des Klinikums der ungarischen Universität Debrecen holten per Kaiserschnitt ein Baby aus dem Bauch einer Mutter, die bereits seit drei Monaten für hirntot erklärt wurde. Erst kürzlich haben die Mediziner um Bela Fülesdi den spektakulären Fall bekannt gegeben - sie wollten sichergehen, dass es das Kind schafft, welches immerhin nur 1.420 Gramm wog, als es in der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt kam. Im Frühling erlitt seine 31-jährige Mutter einen Schlaganfall. Als man sie entdeckte, war ihr Gehirn bereits abgestorben. Die Ärzte konnten nur noch den Hirntod diagnostizieren. Zusammen mit der Familie standen die ungarischen Mediziner vor einer schwierigen Entscheidung. Sollten sie das unmöglich Erscheinende versuchen, um das Leben des Embryos zu retten? Dürfen sie in die natürlichen Prozesse eingreifen und die Mutter solange am Leben erhalten, bis das Kind zu Welt kommen kann? Eine schwierige ethische Frage, die die Ärzte mit ja beantworteten. Sie wollten wenigstens eines der beiden Leben retten, das der Schlaganfall in den Tod zu reißen drohte. „Der Embryo lebte nicht nur, er bewegte sich auch munter“, erinnert sich Fülesdi. Und das Kind wuchs und wuchs, während die Körperfunktionen seiner Mutter künstlich aufrecht erhalten wurden. Im Juli war es dann soweit. Es sei ein „unfassbarer Moment“ gewesen, als das Baby dann zur Welt kam, berichtet Fülesdi. Nach der Entbindung wurden der Mutter außerdem Herz, Bauchspeicheldrüse, Leber und Nieren entnommen. Somit rettete sie neben ihrem eigenen Kind auch noch das Leben vier weiterer Patienten, die dringend auf ein Spenderorgan angewiesen waren.
Doch das war nicht das erste Mal, dass versucht wurde, das Kind einer hirntoten Frau zur Welt zu bringen. Auch in Deutschland gab es bereits Versuche, die für hitzige Debatten sorgten. Im Jahr 1992 sorgte der Fall des „Erlanger Babys“ für Aufsehen. Damals versuchten Ärzte der fränkischen Universität, das Kind einer 18-jährigen Hirntoten zu retten, die bei einem Autounfall schwere Gehirnverletzungen erlitten hatte. Doch immer wieder traten medizinische Komplikationen auf und nach 40 Tagen erlitt die Frau eine Fehlgeburt. Die Großeltern des Ungeborenen waren schlecht darauf vorbereitet, was mit ihrer Tochter geschah und wandten sich in ihrer Trauer und Wut an die Presse. Daraufhin entbrannte die ethische Diskussion. Die Feministin Alice Schwarzer zeigte sich damals „erleichtert, dass die Natur dieses zynische Experiment selbst abgebrochen hat“. Es habe den „Größenwahn der Männermedizin“ verdeutlicht. Die Grünen vertraten die Meinung, die Frau würde zum „biologischen Brutkasten degradiert“. Strafrechtler jedoch argumentierten, das Kind habe ein Recht auf Leben. Ein schwieriger Fall und eine noch schwierigere Diskussion, die sich daran anschloss. 2008 gab es erneut eine ähnliche Situation in Erlangen, die allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgte. An Heiligabend erhielt der Klinikdirektor Matthias Beckmann den Anruf, dass eine schwangere Hirntote zu ihm verlegt würde. Er entschied sich dafür, alles für das Kind zu tun und nach 22 Wochen Wachkoma kam im Sommer 2009 ein gesunder Junge zur Welt. „Wir hätten dem Kind auch gegen den Willen des Vaters eine Chance gegeben“, erzählt Beckmann. Doch hat er sich mit solch eingreifenden Maßnahmen an einer Hirntoten nicht zum Herrn über Leben und Tod aufgespielt, wie Alice Schwarzer dies seinen Kollegen 1992 vorwarf? „Herr über Leben und Tod, ja, das waren wir gewiss“, sagt Beckmann. „Aber das ist unsere ärztliche Rolle. Wir haben uns nicht dazu aufgespielt, sondern für das Kind Partei ergriffen.“
Weltweit sind inzwischen mehr als 30 Kinder von hirntoten Schwangeren zur Welt gebracht worden – das erste bereits 1987 in den USA. Ist sowas ethisch und moralisch korrekt? Dürfen Ärzte in solchem Maße über Leben und Tod bestimmen? Stefan Bruckmaier, der in Ulm Medizin studiert, findet die Sache an sich zwar gut, hat aber dennoch einige moralische Zweifel: „Ich finde die Frage, inwiefern man die Mutter dadurch mediatisiert als Gebärmaschine einsetzt nicht völlig von der Hand zu weisen. Ich bin zwar kein Jurist, aber ist das nicht eigentlich so ein Lehrbuchbeispiel für einen „Menschenwürdefall“, weil man die Mutter nicht um ihrer selbst Willen, sondern um jemand anders Willen am Leben erhält und sie dadurch instrumentalisiert? Ich finde es natürlich schön, wenn das Kind der Mutter gerettet werden kann, allerdings muss man sich fragen, ob man nicht irgendwo eine Grenze ziehen muss. Inwieweit dürfen Ärzte in das Leben anderer Menschen eingreifen? Klar kann man natürlich argumentieren, dass die Mutter sowieso bereits längst gestorben wäre und es bestimmt ihr Wunsch gewesen wäre, dass ihr Kind lebt. Aber es sollte dennoch einmal diskutiert werden, inwiefern man den Körper der Mutter für einen solchen Zweck verwenden darf und klare Regeln sollten geschaffen werden.“ Janina Beckermann, Münchener Medizinstudentin im 5. Semester, findet das Vorgehen der ungarischen Ärzte dagegen völlig in Ordnung. „Wenn man dadurch ein Leben retten kann, warum nicht? Aus Sicht der Mutter würde ich wollen, dass mein Kind überlebt. Aus Sicht des Vaters möchte ich auf jeden Fall das Kind großziehen, gerade wenn ich meine Frau schon verloren habe. Und aus der Sicht des Kindes würde ich auf jeden Fall gerne auf die Welt kommen, auch wenn ich meine Mutter nie kennen lernen werde. Ich denke, dass wir Ärzte mit unseren strengen Kriterien schon ziemlich genau feststellen können, ob Gehirnaktivität vorhanden ist oder nicht. Sobald nur Teile des Gehirns geschädigt sind, wird es natürlich schwieriger. Trotzdem denke ich, dass es mittlerweile relativ eindeutig feststellbar ist, wie es um den Patienten steht. Warum soll man also nicht versuchen, das Kind zu retten, wenn die Mutter sowieso schon tot ist?“
Bereits vor dem „Erlanger Baby“ hatte es einen ähnlichen Fall in Deutschland gegeben, der allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. 1991 wurde in der Nähe von Stuttgart Max Siegel von einer hirntoten Frau geboren. Ein Problem sei das für ihn nie gewesen, erzählte der junge Mann in einem Interview: Seinen Schulfreunden habe er immer gesagt, er sei „[...] aus einer Leiche geboren. Dann haben die anderen gefragt: ,Wirklich, geht das?' Ich habe es erklärt. Dann haben sie nie mehr gefragt.“ Max Siegels Mutter Gaby hat damals eine große Diskussion zum Thema Hirntod ausgelöst. Ist man wirklich tot, nur weil bei einem Menschen keine Hirnaktivität mehr nachzuweisen ist? Diese Frage stellten sich Gabys Mann und der behandelnde Arzt Paolo Bavastro. Herr Siegel verneinte die Frage, denn wie sollte ein toter Körper das Wunder einer Schwangerschaft vollenden können? Auch der Mediziner ist am Zweifeln. „Diese Geschichte hat mein Leben so auf den Kopf gestellt, dass kein Stein auf dem anderen geblieben ist“, berichtet Bavastro in einem interview. Der Internist erlebte die letzten Wochen von Gaby Siegel vor der Geburt. Seitdem beherrscht ein Satz sein Leben: „Hirntot ist nicht gleich tot.“
1996 trug er ihn als Experte dem Deutschen Bundestag vor. Er fand kein Gehör, ein Jahr später trat das Transplantationsgesetz in Kraft, und damit das Hirntod-Konzept. Seither gilt ein Mensch als tot, wenn alle seine messbaren Hirnfunktionen ausgefallen sind. Bavastro kämpft bis heute gegen diese Definition, schreibt Artikel, hält bundesweit Vorträge, streitet sich auf Podiumsdiskussionen mit Transplantationsmedizinern. Im Jahr 2003 wurde er aus der Klinik entlassen, in der er Chefarzt werden wollte und führt heute eine Privatpraxis in Stuttgart. Durch den Fall der Geburt der ungarischen Hirntoten hofft er, dass die Hirntod-Debatte neu auflebt. Bavastro beruft sich auf amerikanische Wissenschaftler, die erhebliche Zweifel am Hirntod-Konzept angemeldet haben. Das bisherige Hirntod-Konzept besagt, dass der Körper nach dem endgültigen Absterben des Gehirns unweigerlich und rasch in seine Einzelteile zerfällt, weil das zentrale Steuerungsorgan, das Gehirn, fehlt. Diese Vorstellung ist schwer zu vereinbaren mit den mittlerweile 30 Fällen von hirntoten Schwangeren, die zum Teil monatelang am Leben gehalten wurden. Der Bioethikrat der USA erklärte deshalb 2008 das traditionelle Hirntod-Konzept für widerlegt. Trotzdem bekannte sich damals die Mehrheit der beteiligten US-Wissenschaftler dazu, dass es so etwas wie den Hirntod zumindest gibt. Sie versuchten diesen aber nicht mehr streng naturwissenschaftlich, sondern eher philosophisch zu begründen. Demnach fehlen einem Hirntoten drei fundamentale Fähigkeiten des lebenden Menschen: die Empfänglichkeit für Reize aus der Umgebung, die Fähigkeit, auf die Welt einzuwirken, sowie der Drang des Organismus, seine Bedürfnisse zu befriedigen - zum Beispiel Hunger durch Essen zu stillen. Dieses neue Hirntod-Konzept ist jedoch unter Medizinethikern sehr umstritten.