Steigende Mengen an Benzodiazepinen gelangen in unsere Umwelt. Grund dafür sind auch unsachgemäß entsorgte Arzneimittel. Studien zeigen: Die Kontaminationen führen zu Verhaltensänderungen bei Fischen. Der Einfluss auf den menschlichen Körper ist ungewiss.
Weltweit entwickeln sich Gewässer zum Sammelbecken für Moleküle aller Art. Über Urin und Faeces, aber auch über unachtsam entsorgte Altmedikamente wandern Pharmaka und deren Stoffwechselprodukte in Flüsse oder Seen. Das hat für Lebewesen im Wasser unerwünschte Folgen. Über die Nahrungskette gelangt so mancher Wirkstoff aber auch zurück zum Menschen. In den letzten Jahren haben viele Labore Untersuchungen zu hormonähnlich wirkenden Chemikalien, sogenannten endokrinen Disruptoren, veröffentlicht. Umweltwissenschaftler Tomas Brodin von der schwedischen Umeå-Universität lenkt die Diskussion in eine bislang wenig beachtete Richtung.
Zusammen mit Kollegen ging er der Frage nach, welchen Effekt Beruhigungs- oder Schlafmittel auf unsere Umwelt haben. In Deutschland werden jährlich mehr als 230 Millionen Tagesdosen pro Jahr zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgerechnet. Mehr als 50 Prozent aller Verordnungen erfolgt auch bei Kassenpatienten auf Privatrezepten, Tendenz steigend. Brodin warnt, neben dem wissenschaftlich gut untersuchten Problem der Abhängigkeit, vor Folgen für aquatische Systeme. Europas Flüsse sind durch unterschiedliche Benzodiazepine belastet © Jerker Fick et al. Vor wenigen Wochen hat er neue Daten aus 30 Flüssen in Europa vorgelegt. Mindestens ein Benzodiazepin kam in 86 Prozent aller 138 untersuchten Wasserproben vor. Oxazepam (85 Prozent, Konzentration bis zu 61 Nanogramm pro Liter), Temazepam und Clobazam (26 Prozent, maximal 39 Nanogramm pro Liter) sowie Bromazepam (12 Prozent, maximal 320 Nanogramm pro Liter) waren die relevantesten Pharmaka seiner Studie, was angesichts von Verschreibungsdaten zu erwarten war. Zum Vergleich: Bei einer Pharmakotherapie mit Diazepam 30 mg/Tag erreichen Patienten mittelfristig Serumkonzentrationen von 500 bis 1.000 ng/ml. Die Werte sind mehr als 10.000 Mal höher als in Wasserproben. Das heißt aber noch lange nicht, dass Kontaminationen irrelevant sind, wie folgendes Experiment zeigt.
Gab Brodin gesunde, nicht belastete Barsche in Wasser mit ähnlich hohen Diazepam- oder Oxazepam-Konzentrationen wie in Flüssen, bemerkte er zahlreiche Verhaltensänderungen. Die Tiere wurden wagemutiger und fraßen schneller: zwei Effekte mit schwerwiegenden Folgen für Ökosysteme. „Wir glauben, dass diese Substanzen Effekte auf alle Fischarten haben“, sagt der Erstautor. Damit schloss sich eine weitere Frage nahtlos an: Welche Mengen an Pharmaka landen in den Fischen selbst? Forscher aus den USA und aus Thailand unter Leitung von Prapha Arnnok fingen Tiere aus dem nordamerikanischen Niagara-Fluss. Sie entnahmen Proben zur weiteren Analyse aus zehn unterschiedlichen Arten. Arnnok fand schwankende Konzentrationen an Citalopram, Paroxetin, Sertralin, Venlafaxin, Bupropion und deren Metaboliten Norfluoxetin beziehungsweise Norsertralin. Die höchste Bioakkumulation trat wenig überraschend im Gehirn auf, gefolgt von Leber, Muskeln und Gonaden. Im Extremfall ließen sich bis zu 400 Nanogramm Norsertralin pro Gramm Gewebe finden. Aufgrund der Bioakkumulation überstiegen die gefundenen Mengen Werte im Fisch die des Wassers teilweise um den Faktor 20. Die Autoren rechnen damit, dass sich der Trend in Zukunft durch mehr Verordnungen weiter verschärfen wird. Sie können aktuell noch nicht beurteilen, welche Relevanz die Werte für den menschlichen Körper haben und ob es Unterschiede zwischen diversen Fischen gibt. Da es sich aber um langfristige Expositionen handelt, fordern sie weitere Studien zur Bedeutung der Moleküle.
Die Befürchtung vermehrter Arzneiverordnungen bestätigen Experten von civity Management Consultants bei einer Analyse im Auftrag des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Aufgrund demographischer Tendenzen rechnen sie innerhalb von 30 Jahren mit einem Anstieg des Medikamentenverbrauchs um 43,4 bis 68,5 Prozent, je nach Szenario ihrer Simulation: © civity Management Consultants Martin Weyand vom BDEW sieht zwar keine Gefahren für die Trinkwasserversorgung. „Dennoch sollte alleine aus Sicht eines vorsorgenden Umwelt- und Gesundheitsschutzes der Eintrag von Arzneimitteln in die Umwelt so gering wie möglich sein“, so Weyand. Er fordert deshalb eine „ganzheitliche Arzneimittelstrategie“, die alle Beteiligten involviert. Hersteller sind in der Pflicht, ältere, umweltschädliche Wirkstoffe nach Möglichkeit zu ersetzen. Ärzte sollten bedarfsgerechte Verpackungsgrößen verordnen, und Apotheker über die sachgerechte Entsorgung per Haus- oder Sondermüll informieren.
Pharmazeuten engagieren sich ohnehin weit mehr als das geforderte Maß im Hinblick auf die Entsorgung von Altmedikamenten, berichtet der Branchendienst APOkix. Von 228 Inhabern gaben 15,8 Prozent an, einmal pro Woche Altmedikamente von Kunden zu bekommen. 50,4 Prozent aller Befragten berichten von Anfragen alle zwei bis drei Wochen, und 31,1 Prozent befassen sich einmal pro Monat mit dem Thema. Die finanzielle Belastung wird mehrheitlich als „eher gering“ (50,4 Prozent Zustimmung) beziehungsweise als „sehr gering“ (31,1 Prozent) eingestuft. Ein Großteil der Interviewten fühlt sich verpflichtet, Präparate trotz fehlender gesetzlicher Verpflichtungen zu entsorgen (69,3 Prozent Zustimmung). Apotheker wünschen sich jedoch zentral organisierte Möglichkeiten der Entsorgung (63,7 Prozent). Der mit wenigen Ausnahmen empfohlene Weg über den Hausmüll ist 58 Prozent ein Dorn im Auge. Informationsdefizite kritisieren 77,9 Prozent aller Chefs. Jedes Elektrogerät trägt bessere Hinweise zur Entsorgung. Wie oft Laien den vermeintlich einfacheren Weg über ihre Toilette wählen, gerade bei flüssigen Darreichungsformen, ist nicht bekannt.
Als Ultima Ratio bleibt deshalb nur nur, Kläranlagen aufzurüsten. Das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik (IGB) hat gezeigt, wie sich über einen anaerob betriebener Membran-Bioreaktor Krankenhausabwässer von Spurenkontaminationen befreien lassen. Alle anderen Lösungen greifen eher langfristig.