Hitzige Debatten sind beim Thema „Cholesterin und Statine“ eher Regel als Ausnahme. So wundert es kaum, dass neue US-Leitlinien derzeit für einige Fehden sorgen. Neue Fettsenker lassen vermuten, dass es Streithähnen auch in Zukunft nicht an Munition mangelt.
Die neuen Leitlinien seien ein „dicker Kuss für Big Pharma“, meinen Kritiker. Millionen gesunder Menschen würden durch diese Leitlinien zu Patienten gemacht, die Statine bräuchten, schreiben in der „New York Times“ unter anderen Dr. Rita Redberg, Kardiologin und Chefredakteurin des Fachmagazins „JAMA Internal Medicine“ sowie Dr. John David Abramson von der „Harvard Medical School“ in Boston. Und: Die Mehrheit der Leitlinien-Autoren habe enge Beziehungen zur pharmazeutischen Industrie und die für die Leitlinien verantwortlichen Fachgesellschaften, die „American Heart Association“ und das „American College of Cardiology“, bekämen Zuwendungen von großen Arzneimittelherstellern. Dies alles gebe den neuen Empfehlungen zumindest ein wenig schmackhaftes Geschmäckle, sagen Kritiker („British Medical Journal“).
Als Ursache der kritisierten Indikationsausweitung gilt zum einen eine neue Strategie bei den Zielwerten für das LDL-Cholesterin, und zum anderen, dass zur Einschätzung des kardiovaskulären Risikos ein neuer Score („CV Risk Calculator“) verwendet wird. Die neue Zielwerte-Strategie besteht darin, dass nicht mehr wie bisher partout bestimmte absolute Zielwerte erreicht werden müssen; denn für den Nutzen der bisherigen Strategie gebe es keine ausreichenden Belege, so die Begründung der Leitlinien-Autoren. Die Orientierung an absoluten Zielwerten könne dazu führen, dass manche Hochrisikopatienten nicht ausreichend behandelt, Menschen mit niedrigem kardiovaskulären Risiko hingegen übertherapiert würden, argumentiert Dr. Neil Stone, der leitende Autor der Leitlinie zu den Lipiden. Empfohlen wird eine Statintherapie bei vier Patientengruppen, und zwar bei:
Je nach Gruppe, zu der ein Patient gehört, und in Abhängigkeit vom individuellen Risiko sollte die Statintherapie entweder intensiv sein oder moderat. Intensiv bedeutet, dass das LDL-C wenigstens um 50 Prozent reduziert wird, als moderat ist eine Reduktion von 30 bis maximal 49 Prozent definiert. Zielwerte gibt es also weiterhin, aber relative, nicht absolute.
Die Leitlinien und die Abkehr von den absoluten Zielwerten stoßen auch in Deutschland erwartungsgemäß auf Zustimmung wie auf Kritik. Der Berliner Kardiologe Dr. Wolfgang Derer etwa soll laut Medienberichten von dem neuen Konzept sehr angetan sein. „Das sind sehr gut gemachte Leitlinien, da sie sich auf die Evidenz beziehen, die es gibt. Bisher beruhte bei der Behandlung der Hypercholesterinämie sehr viel mehr auf Expertenmeinung“, so Derer in einem Medscape-Beitrag. Außerdem könnten die neuen Leitlinien für die Ärzte auch eine Vereinfachung der Behandlung bedeuten. Kritisch sieht die Aufgabe der absoluten LDL-C-Zielwerte hingegen die „Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie“. In Übereinstimmung mit den europäischen Leitlinien sollte, so die DGE in einer Stellungnahme, zunächst an LDL-Zielwerten festgehalten werden. Professor Klaus Parhofer, Leiter der Arbeitsgruppe Stoffwechsel am Klinikum der Universität München Großhadern, erläutert: „Die neue US-Leitlinie ist eine Neuorientierung und unterscheidet sich von unseren Strategien. Da es keine Interventionsstudien gibt, die Zielwerte miteinander vergleichen, so die Argumentation der Amerikaner, könne auf Zielwerte auch ganz verzichtet werden.“ Damit werde jedoch eine „indirekte Evidenz“ ignoriert, so Parhofer. Er plädiere laut der DGE-Mitteilung dafür, den lange erprobten Weg der Cholesterin-Zielwerte weiterzugehen: „Nicht zuletzt die konsequente Umsetzung dieser Behandlungsstrategie, also das Abschätzen des Gesamtrisikos, das Festlegen eines Zielwertes und die Gabe von Statinen, hat zum Rückgang der atherosklerotischen kardiovaskulären Erkrankungen geführt.“ Die sogenannte Evidenz fehle nicht nur für die Strategie der absoluten LDL-C-Zielwerte; sie fehle auch für die Strategie der neuen Empfehlungen der US-Fachgesellschaften, moniert dem Medscape-Beitrag zufolge auch Professor Ulrich Laufs vom Universitätsklinikum des Saarlandes. Zudem bedeute die Strategie der prozentualen Senkung, „dass nun eher komplexe Berechnungen vom Hausarzt erwartet werden“. Dabei müsse außerdem der LDL-Ausgangswert bekannt sein, was im Alltag häufig nicht der Fall sei.
Ein besonders großer Stein des Anstoßes ist der neue Risiko-Score, mit dem ermittelt werden soll, ob ein Patient ein kardiovaskuläres 10-Jahres-Risiko von unter oder von über 7,5 Prozent hat. Mit diesem Score werde das Risiko massiv überschätzt, so die beiden Harvard-Professoren Paul M. Ridker und Nancy R. Cook im „Lancet“. Laut Ridker und Cook werde mit dem neuen Score das kardiovaskuläre Risiko – in Abhängigkeit von der Population – um 75 bis 150 Prozent überschätzt. Bemerkenswert außerdem: Ihre kritischen Berechnungen zu dem Score haben die beiden Kardiologen angeblich schon vor rund einem Jahr dem für die Leitlinien zuständigen „National Heart, Lung, and Blood Institute“ zugeschickt; die Berechnungen seien allerdings nicht bei den US-Fachgesellschaften angekommen, die die Leitlinien erstellt haben. Selbstverständlich verteidigen die Leitlinien-Autoren den neuen Score: Er sei sehr viel besser als alle bisherigen Versuche zur Risikoeinschätzung, basiere auf mehr Daten und liefere auch spezifische Aussagen zu Afro-Amerikanern, so die Kernargumentation etwa beim Kongress der „American Heart Association“ in Dallas, wo die neuen Leitlinien eins der Themen-Highlights waren. Es gebe, so die Leitlinien-Autoren auch keinen Grund, die Implementierung des neuen Score zu verzögern, wozu etwa der US-Kardiologe Professor Steven Nissen (Universität von Ohio in Cleveland) rät. Dieser Score sei zuvor nicht publiziert worden, so dass eine genaue Analyse nicht möglich gewesen sei, kritisierte Nissen, der – nur zur Erinnerung – vor wenigen Jahren mit seiner wissenschaftlichen Arbeit ganz erheblich zum Niedergang des Antidiabetikums Rosiglitazon beigetragen hatte. Der Risikowert von 7,5 Prozent sei allerdings nicht in Stein gehauen, so Neil Stone, einer der Leitlinien-Autoren. Man stehe ohnehin nicht am Ende der Diskussionen, sondern erst an ihrem Anfang, sagte der Kardiologe von der „Northwestern University Feinberg School of Medicine“ in Chicago.
Die neuen US-Leitlinien haben aber nicht allein kontroverse Diskussionen über Zielwerte und Risiko-Score ausgelöst, sondern wohl auch etwas Unruhe – und zwar bei jenen, die darauf hoffen, dass relativ schnell Statin-Alternativen zur Verfügung stehen, für die es nach Einschätzung vieler Kardiologen einen großen Bedarf gibt; aber leider gibt es noch keine Belege für ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis. Ein solcher Mangel an Belegen ist es jedoch, der die Autoren der US-Leitlinien dazu bewogen hat, vom routinemäßigen Einsatz von Nicht-Statin-Therapien abzuraten. Dieses Beharren auf „harten“ klinischen Endpunkten hat nun die Sorge genährt, dass sich die Zulassungen neuer Wirkstoffe zur Cholesterin-Senkung erheblich verzögern könnten. Betroffen davon könnten gerade jene neuen Substanzen sein, die derzeit als Hoffnungsträger mit Blockbuster-Potenzial gelten: die so genannten PCSK-9-Hemmer. PCSK-9 steht für „Proprotein Convertase Subtilisin/Kexin 9“. Dabei handelt es sich um eine Serinprotease, die in der Leber synthetisiert wird und sich dort an LDL-Rezeptoren bindet. Folge davon ist, dass die Fähigkeit der Leber, LDL-C aus dem Blut zu „entfernen“, abnimmt; der LDL-C-Spiegel im Blut steigt. Wird die PCSK-9 gehemmt, stehen mehr LDL-Rezeptoren zur Verfügung. Diese nehmen LDL-C aus dem Blut auf, der LDL-C-Spiegel sinkt.
Derzeit sind mehr als zehn Antikörper gegen das Enzym in unterschiedlichen Phasen der klinischen Entwicklung. In der Phase 3 sind der Antikörper Alirocumab des US-Unternehmens Regeneron (Sanofi), der Antikörper Evolocumab (AMG 145) des Biotech-Unternehmens Amgen und der Wirkstoff RN-316 von Pfizer. Die enorme Effektivität auf den LDL-Cholesterinspiegel ist unstrittig, die prozentuale LDL-C-Reduktion liegt teilweise bei deutlich über 50 Prozent; auch die Sicherheit gilt bislang als unproblematisch, wenngleich selbstverständlich, wie stets bei neuen Substanzen, dazu noch nicht alle Karten auf dem Tisch liegen können. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, experimentelle Hinweise auf einen möglichen Anstieg des zerebralen Beta-Amyloid-Spiegels, woraus sich die Sorge ergibt, die Therapie könnte das Risiko für eine Alzheimer-Erkrankung erhöhen („Experimental and Clinical Endocrinology & Diabetes“). Bislang handelt es sich aber allein um tierexperimentelle Befunde; ihre Relevanz für Menschen ist noch völlig unklar. Unklar ist bislang aber vor allem, ob diese neuen Wirkstoffe tatsächlich einen klinischen Nutzen haben. Noch gibt es für die neuen Substanzen nur Belege dafür, dass sie Surrogat-Parameter beeinflussen, also vor allem das LDL-Cholesterin. Die Phase-3-Studien haben erst begonnen.
Immerhin gibt es aber auch schon beruhigende Stimmen. Möglicherweise werden die neuen Lipidsenker von der FDA ohne Belege dafür zugelassen, dass sie vor Herzinfarkten und Schlaganfällen schützen. Die Wirkung der neuen Substanzen auf den LDL-C-Spiegel, den Blutdruck und Entzündungsparameter wie das hochsensitive CRP könnten genügen, so laut US-Medien Dr. Eric Colman von der FDA, einer der für neue Arzneimittel maßgeblichen Direktoren der US-Behörde. Die FDA glaube an das LDL, wird auch Dr. Michael Koren in US-Medien zitiert, Leiter einer gerade publizierten Datenauswertung zu dem PCSK-9-Hemmer Evolocumab („Circulation“). Kurzum: Das Thema Cholesterin-Senkung wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft für kontroverse Diskussionen sorgen. An Munition für spannende Fehden wird es sicher nicht mangeln.