Mit einem Bluttest könnte Autismus zukünftig früher erkannt werden als bislang möglich. Einige finden diese Entwicklung problematisch. Sie befürchten: Irgendwann könnten Frühdiagnosen zu Abtreibungen führen. Warum ich Forschung auf diesem Gebiet dennoch befürworte.
In Filmen werden Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oft als hochbegabte Genies mit herausragenden Talenten dargestellt. Abgesehen von fehlender Empathie und Kommunikationsschwierigkeiten haben die fiktiven Charaktere oft keinerlei Schwierigkeiten in ihrem Alltag. Das ist aber nur das eine Ende des Spektrums. Gemeinsam haben Betroffene, dass es ihnen schwer fällt, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Ihre Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren, ist oft beeinträchtigt und ihre Interessen sind im Vergleich zu Altersgenossen begrenzt. Während einige Autisten milde Ausprägungen dieser Symptome haben, können andere ihren Alltag nicht eigenständig bewältigen und beispielsweise (auto-)aggressives Verhalten zeigen. Wegen unterschiedlicher Schweregrade und der fließenden Übergänge wird daher in der neuen ICD-11 seit diesem Jahr nicht mehr zwischen einzelnen Subtypen (z.B. atypischer Autismus und Asperger-Syndrom) unterschieden, sondern lediglich die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung gestellt. Die Diagnose erfolgt bei Kindern über verschiedene Verhaltensmerkmale wie Besonderheiten in der Kommunikation, der sozialen Interaktion und im Spielverhalten, gestaltet sich aber oft als schwierig. Im Prinzip lassen sich die Auffälligkeiten schon ab einem Alter von 18 Monaten feststellen, meist erfolgt die Diagnose aber erst zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr.
Forscher der University of California in Davis entwickelten jetzt eine Methode, mit der Ärzte ASS zukünftig mithilfe eines Bluttests diagnostizieren könnten. Grundlage dafür war die Annahme der Forscher, dass Stoffwechselstörungen im Gehirn ursächlich für ASS sind. Sie fanden heraus, dass eine bestimmte Konstellation an Aminen charakteristisch für Kinder mit ASS ist. Die Forscher erhoffen sich durch einen solchen Bluttest eine frühere Diagnose und dadurch eine frühere Intervention, die den Verlauf der Störung positiv beeinflussen könnte. Dazu zählen Verhaltenstherapien oder je nach Schwere auch medikamentöse Behandlungen. Das ist nur eines von vielen Forschungsprojekten weltweit, das sich mit der Erforschung der Ursache und möglichen Biomarkern auseinandersetzt.
Nicht jeder sieht die Entwicklungen in der Autismus-Forschung der letzten Jahre positiv. Anhänger der Neurodiversitätsbewegung sind der Meinung, dass ASS nicht pathologisiert werden sollte. Laut dieser Theorie handele es sich bei Autismus, ADHS und anderen neurologischen Störungen um eine natürliche Ausprägung der menschlichen Diversität, ähnlich der Ethnie oder sexuellen Orientierung. Sie lehnen es daher ab, Begriffe wie Störung zu benutzen und Forschungsgelder in Ursachenforschung und Behandlungsmöglichkeiten zu investieren. Es sei nicht die Aufgabe der Medizin, diese Störung zu korrigieren, sondern eine gesellschaftliche: Es müsse mehr soziale Unterstützung, Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit ASS geben, um sie besser zu integrieren.
Laut Simon Baron-Cohen, Professor für Psychologie und Leiter des Autism Research Centre (ARC) in Cambridge, entscheiden sich aufgrund dieser Strömung immer mehr Menschen mit ASS dagegen, an genetischen Studien teilzunehmen. Sie fürchten, dass es zukünftig möglich ist, ASS bereits im Mutterleib zu erkennen und es dadurch zu mehr Abtreibungen kommt, erklärt Baron-Cohen gegenüber dem New Scientist.
Die Forschung als Feind
Klar genetisch identifizieren wie etwa das Down-Syndrom lässt sich ASS aber nicht. Bislang sind mehr als 100 Gene bekannt, die eine Rolle bei der Entstehung von Autismus haben könnten. Forscher rechnen aber damit, dass weit mehr Gene involviert sind. Durch die große Kombinationsmöglichkeit dieser Gene lässt sich auch die Vielfalt des autistischen Spektrums erklären. Neben genetischen Faktoren sollen auch Umwelteinflüsse als Auslöser in Frage kommen.
Eine kategorische Ablehnung der Ursachenforschung ist insofern problematisch, als dass dadurch Autisten mit starken Ausprägungen der Symptome präzisere und individuellere Behandlungen verwehrt werden. Vertreter und Sprecher der Bewegung sind meist selbst ehemals als „high-functioning“ bezeichnete Autisten. Schon allein aufgrund des breit gefächerten Spektrums von ASS ist es daher nicht möglich, die Bedürfnisse aller Betroffenen gleichsam anzuerkennen und zu vertreten.
Die Autismus-Forschung sollte nicht als Gegner der Neurodiversitätsbewegung gesehen werden, die versucht ASS mittels medikamentöser Therapie zu heilen oder durch Früherkennung gar zu verhindern. Vielmehr kommt die Forschung der Bewegung entgegen: Mithilfe von Biomarkern könnten Mediziner das weit gefächerte Spektrum genauer definieren und zum besseren Verständnis von ASS beitragen. Wenn Forscher die Ursachen von Autismus identifizieren, können Ärzte früher einschreiten und das Leben von Betroffenen verbessern – wenn sie es wollen.