„Wunderwaffe gegen Osteoporose, Arteriosklerose, Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebserkrankungen“: Vitamin K2 sorgt als Nahrungsergänzungsmittel derzeit für Diskussionen. Es gibt jedoch keine bahnbrechenden Erkenntnisse und die Datenlage ist dünn.
In den 1930er-Jahren fiel Wissenschaftlern die Blutungsneigung von Küken bei Cholesterolarmer Ernährung auf. Sie postulierten ein damals noch unbekanntes Molekül als zentralen Faktor. 1935 gelang es schließlich, diese Substanzen mit lipophilen Eigenschaften zu isolieren und zu charakterisieren: die K-Vitamine. Der Buchstabe soll auf Koagulation hinweisen. Fast 90 Jahre später hypen Laienmedien speziell Vitamin K2, ohne dass es bahnbrechende Erkenntnisse gegeben hätte. Die Folge: Patienten halten es für ein Wundermittel. Wie soll sich der Arzt verhalten? Screenshot © DocCheck
Die K-Vitamine 1,2 und 3 unterscheiden sich nur in einer Seitenkette. © NEUROtiker, Wikipedia / CC0 In die Substanzklasse gehört das Vitamin K1 (Phyllochinon oder auch Phytomenadion), welches in den Chloroplasten von Pflanzen zu finden ist. Natürlich vorkommende Derivate des Vitamins K2 (Menachinon) haben verschieden lange Seitenketten und unterschiedliche Eigenschaften. Menachinon punktet mit der höchsten biologischen Aktivität aller K-Vitamine. Wir nehmen die Verbindungen nicht nur über Lebensmittel auf. Vielmehr entstehen sie aus Phyllochinon durch symbiontische Bakterien wie Escherichia coli oder Bacteroides fragilis im menschlichen Darm. Hier gibt es große Unterschiede je nach Mikrobiom. Wissenschaftler unterscheiden bei ihren Empfehlungen nicht immer zwischen den Verbindungen. Beispielsweise gibt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) als Tagesmenge für K-Vitamine bei Säuglingen 4 bis 10 µg K-Vitamine und bei Kindern 15 bis 50 µg an. Jugendliche und Erwachsene sollten 60 bis 80 µg pro Tag aufnehmen. Defizite haben schwerwiegende Folgen, weil das Molekül als Kofaktor bei der Umsetzung von Glutaminsäure zu γ-Carboxyglutaminsäure fungiert: ein Schritt, der zahlreicher Proteine im Körper aktiviert.
Bedeutung von Vitamin K bei der γ-Carboxylierung der Vorstufen der Gerinnungsfaktoren © Shimon / Wikipedia, CC0 So entstehen Gerinnungsfaktoren in ihrer biologisch aktiven Form erst unter dem Einfluss von Vitamin K2. Dessen Epoxid wird von einer Reduktase zum Chinon umgewandelt. Den nächsten Schritt zum Hydrochinon-Derivat katalysiert eine Carbonylreduktase. Erhalten Patienten Arzneistoffe zur Antikoagulation, wird dieser Mechanismus gezielt ausgehebelt. Cumarin-Derivate inhibieren beide Enzyme. Dieser Effekt schwankt aufgrund genetischer Polymorphismen stark von Patient zu Patient. Forscher weisen darauf hin, dass bereits geringe Mengen an Vitamin K2 in Form von Nahrungsergänzungsmitteln die Pharmakotherapie beeinträchtigen. Im Unterschied dazu profitieren Neugeborene sehr wohl von Supplementationen. Bei ihnen liegt das Risiko gefährlicher Mangelblutungen ohne Intervention bei eins zu 10.000 und sinkt durch Phyllochinone praktisch gegen Null. Die Gabe ist erforderlich, weil Vitamin K-Derivate kaum plazentagängig sind. Auch die Muttermilch enthält zu wenig dieser Verbindungsklasse.
Vitamin K-Derivate aktivieren als Kofaktor der γ-Glutamylcarboxylase nicht nur Vorstufen von Gerinnungsfaktoren, sondern auch Osteocalcin. Dieses Protein bindet in seiner carboxylierten Form Hydroxylapatit. Als Hauptbestandteil der anorganischen Substanz in Knochen und Zähnen unterstützt es damit die Mineralisierung von Knochen. Größere Mengen der nicht aktiven Vorstufe werden bei Menschen mit einer niedrigen Knochendichte und mit einem erhöhten Osteoporoserisiko in Verbindung gebracht. Die bislang wichtigste Untersuchung mit mehr als 72.000 Frauen wurde im Jahr 1999 veröffentlicht. Hier zeigten Forscher eine Assoziation zwischen der Einnahme von Vitamin K und niedrigeren Frakturrisiken. Daten aus großen randomisierten kontrollierten Studien gibt es derzeit nicht.
Da γ-carboxylierte Proteine auch bei Gefäßablagerungen eine Rolle spielen, überrascht es nicht, dass Forscher Effekte von K-Vitaminen beim Krankheitsprozess vermuten. Vitamin K2 aktiviert Matrixproteine, die für die Regulierung von Calcium in den Arterienwänden zuständig sind. Ein Mangel könnte die Calciumablagerung in den Gefäßen verstärken. Die Rotterdam-Studie sowie weitere Veröffentlichungen aus 2009 und 2012 bestätigten Assoziationen zwischen hohen Mengen an Vitamin K2 und einer niedrigeren Gesamtmortalität. Bei Patienten mit Nierenerkrankungen treten vaskuläre Kalzifikation teilweise schon vor Beginn der Dialysepflicht auf. Als Marker wird das Matrix-GLA-Protein (dp-ucMGP) herangezogen. Nephrologen gaben 50 Hämodialyse-Patienten im Rahmen einer kleinen Interventionsstudie 360 μg Menachinon K-7 pro Tag. Innerhalb von vier Wochen verringerte sich ihr dp-ucMGP-Wert und damit auch ihr Risiko von Gefäßerkrankungen signifikant.
K-Vitamine spielen im Körper also eine wichtige Rolle. Bei Risikopatienten machen Supplemente Sinn, falls Ärzte tatsächlich einen Mangel diagnostiziert haben. Der Referenzbereich im Blutplasma liegt für Erwachsene bei 0,3 bis 1,0 ng/ml. Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln preisen ihre Produkte aber auch zur Krankheitsprophylaxe an. Aus Sicht der evidenzbasierten Pharmazie ist die Luft vergleichsweise dünn. Das hat hat vor allem folgende Gründe:
Deshalb findet sich Vitamin K2 momentan nicht als Empfehlung zur Prophylaxe diverser Krankheiten in Leitlinien.