Die „Pille“ und erhöhte Thromboserisiken: ein Thema, das Apotheker schon seit Jahrzehnten beschäftigt. Neue Untersuchungen lassen so manches Kombipräparat alt aussehen, vernachlässigen aber individuelle Besonderheiten. Dafür gibt es die Pharmakogenomik.
Vor Jahrzehnten eroberten erste Estrogen-Gestagen-Präparate den Markt. Bald nach ihrer Einführung zeigten mehrere Beobachtungsstudien, dass venöse Thromboembolien um den Faktor zwei bis sechs häufiger auftraten. Daraufhin haben pharmazeutische Hersteller die Estrogenmenge von anfangs 150 Mikrogramm auf bis zu 20 Mikrogramm verringert. Chemiker modifizierten Gestagen-Grundkörper auf vielerlei Art und Weise – nicht immer zum Nutzen von Patientinnen. Das Thema ist heute aktueller denn je.
Anfang 2013 sorgte Diane®-35, ein Kombinationspräparat mit 35 Mikrogramm Ethinylestradiol und zwei Milligramm Cyproteronacetat, in Frankreich für Aufsehen: Die zuständige Arzneimittelbehörde (Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé, ANSM) sah Zusammenhänge mit mehreren Todesfällen durch Venenthrombosen und forderte, Diane®-35 vom Markt zu nehmen. Ärzte haben das Präparat nicht nur bei Akne, sondern auch zur Kontrazeption verschrieben. Dafür sei das Arzneimittel laut ANSG nicht geeignet, es gäbe keine geeigneten klinischen Studien, kritisieren ANSM-Vertreter. Sie berufen sich hinsichtlich der Risiken auf eine große Kohortenstudie aus Dänemark: Patientinnen, die Kombinationspräparate mit Cyproteronacetat einnahmen, hatten vier Mal häufiger Thromboembolien als Frauen, die nicht mit oralen Kontrazeptiva verhüteten. Gemessen an Kombinationspräparaten mit Levonorgestrel war das Risiko immer noch doppelt so hoch. Umgehend begannen Experten der European Medicines Agency (EMA) mit einer Bewertung – zu Gunsten des Präparats. Allerdings müssen Hersteller und Vertreiber künftig auf das erhöhte Thromboserisiko hinweisen, in Deutschland beispielsweise durch einen „Rote-Hand-Brief“ Mitte 2013 und durch Informationen im Beipackzettel. Wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) berichtet, sei eine Verschreibung allein zur Empfängnisverhütung nicht legitim. Und laut Fachinformation soll das Präparat abgesetzt werden, sobald sich Akne-Beschwerden gebessert haben.
Die kritische Betrachtung ist kein Einzelfall. Jetzt haben Bernardine H. Stegemann, London, und Olaf M. Dekkers, Leiden, zusammen mit Kollegen eine Metaanalyse veröffentlicht. Ihr Ziel war, die Vielzahl wissenschaftlicher Artikel umfassend zu bewerten. Über PubMed, Embase, Web of Science, Cochrane, über den Cumulative Index to Nursing and Allied Health Literature sowie über Academic Search Premier und über ScienceDirect fanden sie bis April 2013 genau 3.110 geeignete Veröffentlichungen. In ihre Arbeit schlossen sie 26 methodisch geeignete Studien mit ein. Das Besondere: Bei Netzwerk-Metaanalysen sind auch indirekte Vergleiche verschiedener Arzneistoffe möglich, die so in Studien nicht gegeneinander getestet worden sind. Ihre Resultate: Als Inzidenz, dass Frauen ohne „Pille“ an einer Thrombose erkranken, fanden Forscher 1,9 bis 3,7 Fälle auf 10.000 Lebensjahre. Kombinierte orale Kontrazeptiva erhöhten das Risiko um den Faktor 3,5. Gestagene der ersten Generation führten zu einem 3,2-fach erhöhten Risiko, bei Gestagenen der zweiten Generation war es 2,8, und bei der dritten Generation sogar 3,8. Darüber hinaus spielt der Ethinylestradiol-Gehalt eine entscheidende Rolle. Levonorgestrel-haltige Kontrazeptiva mit 50 Mikrogramm Ethinylestradiol schnitten besonders schlecht ab, während Präparate mit 20 Mikrogram Ethinylestradiol plus Levonorgestrel beziehungsweise Gestoden riskoärmer waren. Im Vergleich zu Levonorgestrel-Kombinationspräparaten hatten Antibabypillen mit 30 bis 35 Mikrogramm Ethinylestradiol und Cyproteronacetat, Drospirenon beziehungsweise Desogestrel ein um 50 bis 90 Prozent höheres Risiko.
Die Autoren sparen bei ihrer Diskussion nicht an Kritik. So gab es 15 Studien ohne Details zum verwendeten Kontrazeptivum. Auch das Alter von Probandinnen verzerrt entsprechende Resultate: Frauen, die Präparate der zweiten Generation verwenden, haben im Schnitt mehr Jahre auf dem Buckel als Frauen, die auf Präparate der dritten Generation zugreifen. Damit könnten auch bei neueren Kontrazeptiva höhere Risiken zu finden sein als in der Metaanalyse dargestellt, heißt es im Kommentar. Als zusätzlicher Unsicherheitsfaktor wird der Body Mass Index genannt – bisher haben sich nur wenige Arbeiten mit entsprechenden Zusammenhängen befasst. Über die Einteilung von Wirkstoffen besteht ebenfalls große Unsicherheit. So wurde Norgestimat wahlweise der zweiten oder der dritten Generation zugeordnet. Und industriegesponserte Studien berichteten im Schnitt von niedrigeren Thromboserisiken als akademische Untersuchungen: Ein Schelm, der Schlechtes dabei denkt.
Die Metaanalyse von Stegemann und Dekkers zeigt ganz klare Tendenzen: Besonders gut schneiden niedrig dosierte Kombis mit Ethinylestradiol und Levonorgestrel ab. Allerdings lassen sich Patientinnen nicht über einen Kamm scheren. Umso wichtiger ist, Thromboserisiken individuell zu untersuchen, Stichwort Pharmakogenomik. Drei bis fünf Prozent aller Frauen tragen so genannte Faktor-V-Leiden-Mutationen. Es kommt zu einer Störung der Hämostase infolge von APC-Resistenzen. Das führt bei klassischen Kombinationspräparaten im schlimmsten Fall zu 30-fach erhöhten Thromboserisiken. Betroffene sollten besser kupferhaltige Intrauterinpessare verwenden oder auf Kontrazeptiva mit Progestinen umsteigen. Mit entsprechenden DNA-Tests betreten Apotheker heute noch Neuland – in fünf bis zehn Jahren gehören Untersuchungen sicher zum Tagesgeschäft.