Innerhalb eines Jahres hat sich die Zahl der Schamlippenreduktionen in Deutschland nahezu verdoppelt. Fragwürdig sind nicht nur drohende Wundheilungs- und Empfindungsstörungen, sondern auch die Beweggründe der Frauen, die sich operieren lassen.
Schönheitskorrekturen nehmen weltweit seit Langem zu, allein im vergangenen Jahr gab es bei kosmetischen Eingriffen ein Plus von neun Prozent, das teilte die International Society of Aesthetic Plastic Surgery (ISAPS) vor wenigen Wochen mit. Der beliebteste Eingriff sind Botox-Injektionen, über 4,6 Millionen gab es davon laut ISAPS in 2016. Bei den Operationen führen Brustvergrößerungen das Feld an, gefolgt von Fettabsaugungen und Augenlidstraffungen – das gilt weltweit wie auch für Deutschland. Der größte neue Trend aber, der die höchsten Wachstumsraten verzeichnet, stammt ursprünglich aus der Pornoindustrie: Die Zahl von kosmetischen Schamlippenreduktionen hat sich laut ISAPS innerhalb von einem Jahr nahezu verdoppelt. Auch in Deutschland legen sich jährlich etwa 4.000 bis 5.000 Frauen für solche Eingriffe unters Messer, das ergaben die letzten Hochrechnungen der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC).
„Ich sehe das als Trend, der hoffentlich bald wieder abebbt“, sagt dazu DGPRÄC-Präsident Raymund Horch. Verantwortlich sei der ständige Vergleich mit Bildern im Internet, befeuert werde das Ganze durch „Geschäftemacher, die darin eine Goldgrube sehen.“ Leider sei aber durch die Berufsfreiheit in der ästhetischen Chirurgie vieles möglich: Nicht nur, dass Eingriffe durchgeführt werden, die vielleicht gar nicht durchgeführt werden sollten. Sondern auch, dass das immer wieder unsachgemäß geschieht, was das Risiko für Komplikationen erhöht. Bei den Schamlippenkorrekturen drohen Wundheilungs-, Empfindungs- und sexuelle Funktionsstörungen sowie Narbenbildung. Mitglieder in der DGPRÄC müssen Fachärzte für plastische und ästhetische Chirurgie sein. Aber auch andere Ärzte können Schamlippen-Beschneidungen durchführen. „Und bei Neugründungen wie der ‚Deutschen Gesellschaft für Intimchirurgie und Genitalästhetik‘ ist nicht unbedingt klar, worin die Qualifikation ihrer Mitglieder besteht“, warnt Horch. Ada Borkenhagen © privat Doch egal, ob dieser nun sachgemäß durchgeführt wird oder nicht: Was bewegt Frauen dazu, sich überhaupt einem solchen Eingriff zu unterziehen? Die Psychologin und Soziologin Ada Borkenhagen erforscht seit Jahren, warum Menschen ihre Körper verändern wollen – meist sind es Frauen, auf die nach wie vor gut 85 Prozent der schönheitschirurgischen Eingriffe entfallen. Der Trend zu kosmetischen Schamlippen-OPs sei im Grunde die Folge einer Verkettung. Als Bade- und Unterwäsche immer knapper wurden, sei der Trend zur Schamhaarentfernung aufgekommen. „Und durch die Verbreitung des Brasilian Waxing wurde der weibliche Intimbereich ganz einfach viel stärker sichtbar.“ Daraus sei ein falsches Ideal entstanden, wie dieser angeblich auszusehen habe – das sich an oftmals operierten Porno-Darstellerinnen orientiert. „Dabei ist das Erscheinungsbild der weiblichen äußeren Geschlechtsorgane von Natur aus ausgesprochen vielfältig“, sagt Borkenhagen.
Doch pornografische Darstellungen seien lange Zeit die einzigen Bilder der weiblichen Scham gewesen, die andere Frauen überhaupt zu Gesicht bekamen. Im Alltag hat eine heterosexuelle Frau wenig Vergleichsmöglichkeiten. Anders als vielleicht bei männlichen Jugendlichen ist ein Genitalien-Vergleich unter Freundinnen keinesfalls üblich. „Und weil die weibliche Scham immer noch mit Tabus belegt ist, mangelt es selbst im Biologie-Unterricht an anatomisch korrekten Darstellungen“, sagt Borkenhagen. „Es gibt auch unfassbar wenige Daten über deren Aussehen.“ Statt falscher Ideale gelte es daher zu vermitteln, welche Vielfalt an Erscheinungsformen es gibt. Die zum Schönheitsideal erkorene Variante mit möglichst kurz beschnittenen inneren Schamlippen, die zwischen den äußeren nicht hervorschauen dürfen, ist noch dazu eine Annäherung an die unentwickelte, kindliche Ausprägung der Geschlechtsmerkmale: „Es wird bei der Korrektur ein Ideal favorisiert, bei dem das Geschlecht verdeckt werden soll – der Tabuisierung wird dadurch weiter Vorschub geleistet.“ Dass Schönheits-Operationen insgesamt zunehmen und immer extremere Formen annehmen, hat laut Borkenhagen mehrere Gründe. Zum einen habe die Bedeutung von Schönheit zugenommen. „Zum anderen ist heute immer mehr machbar und für immer mehr Menschen bezahlbar‟, sagt Borkenhagen. „Dadurch, dass Schönheit eine Ware wurde, wächst der Drang, sie zu erwerben.“
Und eben weil nun so vieles machbar ist, werde man immer stärker verantwortlich für das eigene Aussehen gemacht. In der erfolgsorientierten Gesellschaft soll dieses vor allem den Eindruck von ungetrübter Vitalität vermittelt. „Anders als vielleicht noch früher, dürfen Gesichter altern, aber nicht ‚vom Leben gezeichnet‘ sein.“ Topmanager unterwürfen sich daher nicht nur dem Schlankheitsideal sondern ließen sich die Tränensäcke operieren, Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, ihre hängenden Augenlider. Man werde in Zukunft daher immer stärker am Äußeren ablesen können, welcher Einkommenschicht jemand angehört. Ob er sich gute Lebensmittel, Personaltrainer und eben gewisse Schönheitskorrekturen leisten kann. In Anlehnung an den Begriff der Aristokratie hat Borkenhagen dieses Phänomen „Körperkratie“ getauft. Aber wie viel Fixierung aufs Äußere ist aus psychologischer Sicht eigentlich noch gesund? „Solange jemand sich nur einen Huckel auf der Nase beseitigen lässt, ist das sicherlich noch im Rahmen“, sagt Borkenhagen. „Wenn sich aber jemand dem Prozess des Alterns nicht stellt, und versucht, ihm durch Operationen zu entkommen, ist das Realitätsverleugnung. Ist jemand 60 und meint, wie eine 20-Jährige aussehen zu müssen, dann kann das in einen fast wahnhaften Zustand münden. Problematisch ist es auch, wenn ich dadurch meine Identität ändern will.“ Medien, Werbung und Industrie verkauften zwar das Versprechen, gutes Aussehen stehe für Glück. „Tatsächlich werde ich aber kein Stück glücklicher, nur weil ich äußerlich schön bin.“
Raymun Horch © privat Dafür, welche Hoffnungen jemand an eine Schönheitsoperation knüpft, sind auch die Chirurgen verantwortlich, die sie anbieten, sagt die Psychologin. Bei der DGPRÄC gibt es einen Verhaltenskodex für Mitglieder. Der besage zum Beispiel, dass man nicht mit Sonderangeboten für ästhetische chirurgische Eingriffe werben soll, sagt Verbandspräsident Raymund Horch. „Sonderangebote sind unseriös, so etwas lehnt der Berufsverband ab.“ Mitglieder sollen auch davon absehen, mit Vorher-Nachher-Bildern zu werben, da diese in der Regel einen falschen Eindruck erzeugten. Die derzeit in den USA verbreitete Werbung für eine weitere neue Mode, das „complete Mummy Makeover“ etwa (eine chirurgische Rundumerneuerung nach der Geburt), geht Horch gegen den Strich. „Damit wird Müttern praktisch eingeredet, dass ihre Körper durch die Geburt versaut seien und auf Vordermann gebracht werden müssten. Dabei ist es schließlich keine Krankheit, ein Kind zu bekommen.“ Und die empfundenen Schönheitsmakel würden dabei oft nur gegen Narben eingetauscht. „Als Kampagne und als Trend finde ich das bedenklich. Ich lehne es ab, Menschen eine Norm vorzugaukeln, weil man damit ein Geschäft machen will.“
Andererseits findet er es durchaus vertretbar, Eingriffe bei einer Frau vorzunehmen, die nach der Geburt unzufrieden mit ihrem Körper ist – wenn der Wunsch von ihr selber kommt. Auch Brust-OPs seien völlig gerechtfertigt, wenn zum Beispiel beide Brüste extrem unterschiedlich groß seien. Wenn sich aber eine junge Frau einen übergroßen Silikonbusen wünscht, um damit im Bordell arbeiten zu können, sollten verantwortliche Chirurgen das ablehnen, sagt Horch, weil die medizinischen Risiken dabei zu groß seien. Wie Borkenhagen sieht er die Schönheitschirurgie nicht als Heilsbringer für alle Zwecke: „Sie können mit dem Skalpell keine psychischen Probleme lösen und keine Ehe retten.“ Aber man könne auch nicht ignorieren, dass es „das Streben nach Schönheit immer geben wird.“ Ohnehin setzt sich nicht jeder aberwitzige Trend der kosmetischen Chirurgie aus den USA auch in Deutschland durch. Dort lassen sich Hollywood-Stars mittlerweile nicht nur Eigenfett oder Kollagen unter den Fußballen spritzen, um in absurd hohen Stilettos laufen zu können. Sondern sie lassen sich sogar die Füße regelrecht zurechtschneiden, um sie besser in Designerpumps quetschen zu können. Solche auch Cinderella-OPs genannten Eingriffe seien seines Wissens nach in Deutschland bisher kein Thema, sagt Horch. Ebenso sei die Nachfrage nach immer noch größeren Kunstbusen in Amerika deutlich ausgeprägter als bei uns. Die stärker kapitalistisch geprägte Gesellschaft in den USA begünstige womöglich eine „mehr vordergründige, auf das äußere ausgerichtete Lebensform“ als die unsere, so Horch.