Nach Verletzungen an peripheren Nerven bleiben oft Schäden zurück. Sie äußern sich durch Taubheitsgefühle und Lähmungen. Ein Medikament, das bereits in der Therapie von Multipler Sklerose eingesetzt wird, könnte den Heilungsprozess deutlich beschleunigen.
Verletzungen an peripheren Nerven können durch Unfälle, Entzündungen, Überlastung sowie Tumoren und Stoffwechselerkrankungen entstehen. Sie besitzen zwar eine ausgeprägte Regenerationsfähigkeit, doch in vielen Fällen können Schäden zurückbleiben. Betroffene Patienten leiden dann an Symptomen, die von Kribbeln über Taubheitsgefühle bis zu Lähmungen reichen. Noch gibt es keine zugelassenen Arzneien, die die Regeneration von geschädigten Nerven unterstützen.. Neurowissenschaftler der Universität Duisburg-Essen haben nun eine Substanz gefunden, die im Tiermodell die Wiederherstellung der Funktion von verletzten Nerven beschleunigt. Wie die Wissenschaftler um Mark Stettner und Fabian Szepanowski in einem Artikel mitteilen, sorgt Dimethylfumarat (DMF) dafür, dass die Isolierschicht der Nervenfasern repariert wird. DMF findet seit einigen Jahren bereits Anwendung in der Therapie der Multiplen Sklerose und hat bei dieser Erkrankung wahrscheinlich einen dämpfenden Einfluss auf das überschießende Immunsystem. Biogen Idec, der Hersteller von DMF, hat sich an der aktuellen Studie finanziell zwar nicht beteiligt. Einer der Co-Autoren der Veröffentlichung ist jedoch zurzeit auch Angestellter bei Biogen Idec.
Im Rahmen ihrer Untersuchung verletzten die Forscher einen Nerv im Hinterlauf von narkotisierten Mäusen und teilten sie in zwei Gruppen auf. Bereits zwei Tage vor dem Eingriff bekam die eine Gruppe DMF gespritzt, die andere Gruppe dagegen nur ein Placebo. Die Injektionen setzten die Forscher täglich bis neun Tage nach dem Eingriff fort. In beiden Gruppen konnten sie beobachten, dass sich die Griffstärke des Hinterlaufs sieben Tage nach der Verletzung dramatisch verschlechtert hatte. Nach 14 Tagen hatte sich in beiden Gruppen die Griffstärke jedoch wieder etwas verbessert. Aber nur in der mit DMF behandelten Gruppe stieg die Griffstärke nach 21 Tagen auf das Niveau von gesunden Mäusen. „DMF führt dazu, dass die Nervenverletzung deutlich schneller heilt“, sagt Stettner. „Aus humanen Studien ist bekannt, dass die Prognose umso besser ist, je schneller der Nerv heilt und der Großteil der Regeneration innerhalb der ersten acht Wochen passiert.“ Anschließend untersuchten die Forscher, wie schnell die Nervenleitung im verletzten Hinterlauf war. Dabei zeigte sich, dass bei den DMF-behandelten Tieren die Leitfähigkeit des geschädigten Nervs sich nach 21 Tagen stärker erhöht hatte als bei den Tieren der Kontrollgruppe. In einem weiteren Versuch maßen Stettner und Szepanowski, wie dick die Nervenfasern umhüllende Myelinschicht war. Auch hier wiesen die DMF-behandelten Mäuse nach 21 Tagen deutlich bessere Werte auf. „Die Dicke der Myelinschicht nahm bei den Tieren, die DMF erhalten hatten, zwischen dem 14. und 21. Tag nach der Verletzung deutlich zu, während sie bei den Kontrollmäusen im gleichen Zeitraum viel weniger zunahm“, berichtet Stettner.
Aus früheren Studien war bereits bekannt, dass DMF auf molekularer Ebene den Transkriptionsfaktor Nrf2 aktiviert. Dieser sorgt in geschädigten Zellen wiederum dafür, dass das Enzym Hämoxygenase-1 (HO-1) in größeren Mengen produziert wird. HO-1 hat antiinflammatorische sowie zellschützende Eigenschaften und fördert vermutlich die Regeneration von geschädigten Zellen. Auch das Team um Stettner und Szepanowski konnte in den DMF-behandelten Mäusen beobachten, dass im Zellkern der Schwann-Zellen besonders viel Nrf2 vorkam und verstärkt HO-1 gebildet wurde. Schwann-Zellen umgeben die Nervenfasern und bilden die Isolierschicht der Nerven. Sie konnten bei diesen Tieren jedoch keine Änderung der Anzahl von T-Lymphozyten und Makrophagen in dieser Region feststellen. Deshalb gehen die Neurowissenschaftler davon aus, dass die beobachteten Effekte von DMF bei der Behandlung von mechanischen Nervenschäden hauptsächlich neuroregenerative Mechanismen positiv beeinflusst und die Einwirkung auf Immunzellen eine untergeordnete Rolle spielt. Im Rahmen der Experimente konnten die Forscher bei den Tieren keine durch DMF verursachten Komplikationen beobachten. Auch in der Behandlung von MS-Patienten ist das Nebenwirkungsspektrum von DMF weniger stark ausgeprägt als bei den meisten anderen MS-Medikamenten. Allerdings berichtete Ende 2014 der Hersteller von DMF in einem Rote-Hand-Brief über eine MS-Patientin, die nach einer 4,5-jährigen Behandlung mit diesem Medikament an einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) verstorben war.
Andere Experten halten die neue Studie für sehr gelungen: „Eine große Stärke der Untersuchung ist, dass Stettner und seine Mitarbeiter nicht nur auf mikroskopischer Ebene eine Wiederherstellung der Nerven beobachten können, sondern auch zeigen können, dass sich durch die Behandlung mit DMF die Griffstärke von lebenden Mäusen verbessert“, sagt Gerd Meyer zu Hörste, Leiter einer Arbeitsgruppe an der Klinik für allgemeine Neurologie der Universität Münster. Seiner Ansicht nach lassen sich die Ergebnisse dieser Studie gut von der Maus auf den Menschen übertragen: „Traumatische Nervenverletzungen laufen bei allen Säugetierarten erstaunlich ähnlich ab“. Ein entsprechender Test des Medikaments im Rahmen einer klinischen Studie, so der Neurologe, könne sich allerdings als schwierig erweisen, weil es nicht einfach sein werde, eine Kohorte mit geeigneten Teilnehmern zusammen zu stellen. „Einerseits unterscheiden sich Patienten mit einer mechanisch verursachten Nervenverletzung in der Ausprägung des Schadens doch erheblich und andrerseits sieht man die Patienten selten in der Akutphase“, findet Meyer zu Hörste. „Gerade wenn polytraumatisierte Patienten noch an anderen schweren Verletzungen leiden, nehmen sie am Anfang die Folgen einer Nervenverletzung gar nicht richtig wahr.“
Doch selbst wenn diese Probleme gelöst werden könnten, plädiert der Neurologe zunächst für weitere Tierstudien: „Sie sollte ein praxisrelevanteres Design haben: Das heißt, die DMF-Gabe sollte erst einige Tage nach der Nervenverletzung beginnen und nicht schon vorher wie bei der aktuellen Studie. Zudem sollte geschaut werden, ob sich durch die Behandlung mit DMF auch die Anzahl der Nervenfasern erhöht.“ Stettner sieht das ähnlich: „Wir wollen noch einige weitere Experimente mit DMF machen, um sicher zu sein, dass wir auf dem richtigen Weg sind und nicht umsonst viel Geld für eine klinische Studie ausgeben.“