Tierversuche haben viele Gegner, aber auch Befürworter. Kaum ein anderes Thema erhitzt derart die medizinischen Gemüter. Immer wieder befördern Protestaktionen das Für und Wider in die Medien. Doch wie stehen Medizinstudenten zu dem heiklen Thema?
Um die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern zu verstehen, sollte man sich erst einmal klarmachen, was Tierversuche genau sind. Ziele von Tierversuchen sind in der Regel der Erkenntnisgewinn in der Grundlagenforschung sowie die Entwicklung und Erprobung neuer medizinischer Therapiemöglichkeiten. Die Forschung an Versuchstieren wird in Universitäten und Forschungseinrichtungen, aber auch in Pharma- und Dienstleistungsunternehmen durchgeführt. Die meisten Tiere werden eigens für Forschungszwecke gezüchtet, nur sehr wenige werden dafür in der freien Wildbahn gefangen. Im Jahr 2005 wurden weltweit zwischen 58 und 115 Millionen Wirbeltiere – vor allem Hausmäuse und Wanderratten, aber auch Hamster, Meerschweinchen, Kaninchen, Frettchen, Hunde und Primaten – für Tierversuche verwendet. Viele Versuchstiere sterben während der Experimente oder werden anschließend getötet. Die Aussagekraft von Tierversuchen und die ethische Vertretbarkeit ist schon seit jeher stark umstritten. Bei der Abwägung von Nutzen und Schaden scheiden sich immer wieder die Geister. Befürworter argumentieren, dass die Wissenschaftler den Auftrag haben, biologische und medizinische Zusammenhänge zu erforschen. Dazu gehöre auch, neue oder verbesserte Behandlungen für menschliche Krankheiten zu entwickeln. Da bei jeder neuen Methode mit Misserfolgen und Nebenwirkungen gerechnet werden müsse, wäre es ethisch nicht vertretbar, diese direkt an Kindern oder Erwachsenen zu testen. Aus Gründen der Patientensicherheit sind ihrer Meinung nach Tierversuche notwendig. Tierschützer hingegen betonen immer wieder, dass Tiere selbstbewusste Wesen mit einem Eigenwert und eigenen Rechten sind und daher wie Menschen zu achten sind. Laut ihrer Meinung ist es in keinem Fall gerechtfertigt, Tieren zur Befriedigung menschlicher Interessen Schmerzen, Angst oder Stress zuzumuten. Was nun richtig und falsch ist, kann jeder nur für sich selbst entscheiden. In Deutschland sind Tierversuche erlaubt, aber sie unterliegen strengen Regeln.
Um die Zahl der Tierversuche zu senken und die einzelnen Versuche optimal durchzuführen, wird heute die 3R-Regel „replace, reduce, refine“ angewendet. Replacement fordert, Tierversuche zu ersetzen, wann immer es alternative Methoden gibt, die gleiche Resultate liefern können. Heute finden anstelle von Tierversuchen zum Beispiel oft Versuche an Zellkulturen oder mit Computermodellen statt. Reduction zielt darauf ab, die Zahl der verwendeten Tiere zu reduzieren. Dies gelingt zum Beispiel, indem Wiederholungsversuche vermieden werden. Refinement strebt an, die Belastung der Versuchstiere zu senken. Tiere werden für schmerzhafte Eingriffe narkotisiert, Operationsverfahren werden optimiert, und die Tiere werden so behandelt, dass sie möglichst wenig Angst erleiden müssen. Zum Refinement gehört auch die Sicherstellung einer artgerechten Haltung. Die 3R-Regel ist auch Grundlage der im November 2010 von führenden Wissenschaftlern aus der Schweiz, Deutschland, England, Frankreich und Schweden verabschiedeten Basler Deklaration. Die Unterzeichner verpflichten sich darin zudem, alles zu unternehmen, um das Vertrauen in die tierexperimentelle, biomedizinische Forschung zu stärken sowie transparent und offen über das sensible Thema der Tierversuche zu informieren. Doch wie stehen Medizinstudenten zu Tierversuchen?
Hallik Ngousou, der im vierten Semester in München studiert, ist gegen Tierversuche: „Ich lehne Tierversuche komplett ab. Ich schätze die Medikamente, die wir haben, aber wenn jemand eine Krankheit bekommt, gegen die es noch kein wirksames Mittel gibt, hat keiner Schuld daran und besonders nicht die Tiere. Mir ist nicht ganz klar, wie ich einer Laborratte erklären würde, dass ihr Wohlergehen weniger wichtig ist als das eines meiner Artgenossen. Was hilft eine artgerechte Haltung und ein sorgsamer Umgang, wenn die Tiere letztendlich doch bei den Versuchen Schmerzen erleiden oder anderweitig geschädigt werden und sogar sterben? Solche Versuche würde doch kein Mensch mit sich machen lassen. Gerade deshalb finde ich es umso verwerflicher, es mit denen zu machen, die nicht ‚nein‘ sagen können. Tierversuche sind aber auch aus medizinischen Gründen abzulehnen. Die Krankheiten des Menschen können durch Tierexperimente weder in ihren wirklichen Ursachen erforscht noch geheilt werden. Das sogenannte „Modell“ der Krankheit am künstlich geschädigten Versuchstier hat außer gewissen Symptomen nur wenig mit der menschlichen Erkrankung zu tun, die meist psychische, genetische, ernährungs- und umweltbedingte Ursachen hat. (...) Tierversuche sind falsch, unabhängig davon, ob sie für den Menschen nützlich sind. Die legitime Frage ist nicht: „Wieviel Gesundheit können wir maximal erzeugen?“, sondern „Wieviel Gesundheit können wir auf ethisch zulässige Weise erzeugen?“ Die – echte oder vermeintliche – Nützlichkeit von Tierversuchen ist überhaupt kein ethisches Argument: Es gibt viele Dinge, die nützlich wären, aber dennoch unmoralisch und verboten sind, zum Beispiel Menschenversuche. “
Jannis Ennerik, Student im 8. Semester aus München, ist da gänzlich anderer Meinung. Er arbeitet in der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe seines Pharmakologie-Professors mit. Um neue Medikamente gegen Lungenkrebstumoren zu entwickeln, musste er auch schon die ein oder andere Labormaus zu Untersuchungszwecken töten. Gerade deswegen steht für ihn fest, dass Tierversuche wichtig und richtig sind: „Für meine Forschung sterben Tiere. Ich habe sowohl selbst schon getötet, als auch davon profitiert, dass andere für mich töten. Allgemein bewegt man sich heute so weit es geht vom Tierversuch weg und versucht, das Leid der Tiere, die man verwendet, so weit wie nur irgend möglich zu minimieren und das ist auch gut so. (...) Ich persönlich kenne keinen Wissenschaftler, der gerne Tierversuche macht. Keiner, den ich kenne, tötet leichtfertig oder fügt leichtfertig Leid zu. (...) Aber selbstverständlich spielen auch die strengen Regularien und natürlich die hohen Kosten eine Rolle dabei, dass niemand unbegründet Tierversuche macht. (...) Jeder Forscher nutzt normalerweise alternative Verfahren, sofern diese vergleichbar verlässliche Resultate liefern können. Deswegen finde ich die Durchführung von Tierversuchen für unsere Gesundheit ethisch vertretbar.“ Interessanter Artikel hierzu:
Sarah Joog aus Göttingen allerdings übt auch Kritik an Tierversuchen: „Ich finde es schade, dass so viele Menschen oft die ‚Tierversuche sind wichtig und deswegen richtig‘-Keule schwingen und das Argument ‚besser Tiere leiden als Menschen‘ finde ich auch etwas einfach. Es ist doch Fakt, dass Tierversuche heute in vielen Bereichen eben nicht mehr zwingend notwendig sind, aber immer noch durchgeführt werden. Neben dem Forschungsbereich denke ich zum Beispiel an Tierversuche in der Produktentwicklung wie in der Kosmetikindustrie: selbst wenn diese in Deutschland gesetzlich verboten sind, so finden sie im Ausland noch zahlreich statt. Und auch wenn Tierversuche in einigen Bereichen notwendig und wichtig sind, so werden die Tiere oft unter katastrophalen und unwürdigen Bedingungen gehalten und sterben qualvoll. (...) Ich sehe Tierversuche immer kritisch, weil ich den Unterschied zwischen Mensch und Tier, insbesondere mit Blick auf die Leidensfähigkeit, für relativ gering erachte. Allerdings kann man sich den Sachzwängen wohl nicht verschließen und ohne Tierversuche gäbe es vermutlich sehr viel mehr Leid durch ungetestete Medikamente und weniger Forschung. Deswegen bin ich nur unter sehr strengen Auflagen dafür.“
Der Einsatz von Tierversuchen für die wissenschaftliche Forschung und Entwicklung neuer Medikamente ist erlaubt, weil er von der Mehrheit als sinnvoll erachtet wird. Ein gänzlich anderes Themengebiet jedoch stellen die Tierversuche in der Kosmetikindustrie dar. Jahrzehntelang war es im Kosmetiksektor üblich, Experimente an Kleintieren wie Mäusen, Kaninchen oder Meerschweinchen durchzuführen, um abzusichern, dass bestimmte Inhaltsstoffe von Wimperntusche, Cremes & Co. verträglich und nicht gesundheitsschädlich sind. Hier mussten nach dem altbekannten Sprichwort nicht Menschen für die „Schönheit leiden“, sondern wehrlose Tiere. Da dies mit unseren ethischen und moralischen Grundsätzen nicht vereinbar ist, haben Tierschützer lange für ein Verbot gekämpft und mussten sich gegen eine milliardenschwere Kosmetik-Lobby durchsetzen. Vor einigen Monaten haben sie ihr Ziel nun erreicht: Seit März 2013 gibt es ein generelles Verkaufsverbot für Kosmetikprodukte, die zuvor an Tieren erprobt wurden. Das Verbot von Tierversuchen erfolgte schrittweise. Die EU gestand der Industrie Zeit zu, um alternative Testmethoden entwickeln zu können. Zunächst verbot sie im Jahr 2004 Tierversuche für das fertige kosmetische Endprodukt. 2009 folgte dann ein detailliertes Verbot für Tierversuche an einzelnen kosmetischen Inhaltsstoffen. Hersteller behielten aber die Möglichkeit, die Tests außerhalb der EU durchführen zu lassen und dort eine Marktzulassung zu bekommen. Solche Kosmetika, die anderswo mit Tierversuchen in Berührung kamen, konnten weiterhin in Deutschland verkauft werden. Lange wurde deshalb um ein umfassendes Vermarktungsverbot gerungen. Dieses Verbot ohne jegliche Ausnahmen und Schlupflöcher für die Kosmetikkonzerne ist nun durchgesetzt. Andere Länder führen jedoch weiterhin Tierversuche für Kosmetika durch. In China ist das sogar gesetzlich vorgeschrieben.
Stefan Kunitz promoviert derzeit und hat sich schon länger mit der Notwendigkeit von Tierversuchen beschäftigt: „Ich arbeite in der biomedizinischen Forschung und beschäftige mich mit dem Tiermodell der Multiplen Sklerose zum Verständnis der Krankheitspathophysiologie und zur Entwicklung neuer Medikamente. Ich halte Tierexperimente für notwendig, sinnvoll und ethisch gerechtfertigt. Dieser Aussage liegt natürlich ein menschenzentrisches Weltbild zugrunde, das eine gewisse hierarchische Struktur erkennen lässt und den Wert eines Menschen über den einer Maus stellt. Dies ist wohl der springende Punkt. Entweder man akzeptiert dies, oder man wird Veganer und nimmt keine Medikamente ein, da so gut wie alle heute gängigen Medikamente zunächst an Tieren getestet wurden. Ich halte Tierversuche für notwendig, da es in meinem Weltbild keine ethisch vertretbare Alternative gibt. Als Arzt würde ich es als unverantwortlich empfinden, einem Patienten einen unbekannten Wirkstoff zu verschreiben und zu hoffen, dass er keine größeren Nebenwirkungen hat und eventuell sogar wirkt. (...) Es erfordert viel Bürokratie und Anstrengung, die Erlaubnis zur Durchführung von Tierversuchen zu bekommen und es wird sehr streng kontrolliert. (...) Diese Auflagen sind sinnvoll und verhindern Missbrauch und unnötige Qualen. (...)“
Kritiker argumentieren, dass Tierversuche oft keine Vergleichbarkeit in Bezug zu den Auswirkungen der getesteten Stoffe auf den menschlichen Körper bieten. Der Toxikologe Dieter Runge ist sogar überzeugt davon, dass sich Daten aus Tierversuchen in weit mehr als 50 Prozent der Fälle nicht auf den Menschen übertragen lassen: „Wie unterschiedlich Medikamente bei Mensch und Tier wirken, zeigt das Schmerzmittel Aspirin. Aspirin würde heute niemals die Arzneimittelprüfung bestehen“, erklärt Runge. „Im Tierversuch ist das Medikament toxisch. Das Gegenbeispiel ist das Schlafmittel Contergan. In den damals noch sehr unsystematisch durchgeführten Tierversuchen löste der Wirkstoff Thalidomid keine Nebenwirkungen aus, sodass er sogar schwangeren Frauen empfohlen wurde. Das Ergebnis waren teils schwere Missbildungen bei Tausenden von Kindern.“ Eine kürzlich durchgeführte Studie, die im British Medical Journal erschien, belegt Runges Erfahrungen. Der Vergleich von Ergebnissen verschiedener Behandlungsmethoden bei Versuchstieren und Patienten ergab, dass im Schnitt nur 50 % der untersuchten Krankheitsbilder Übereinstimmungen aufwiesen. Auch deswegen wird nach Alternativen zu Tierversuchen geforscht. In-vitro-Methoden wie das Arbeiten an Zell- und Gewebekulturen, Computersimulationen oder Experimente mit künstlicher Haut versprechen in der Zukunft einen größeren Einsatz. Substanzen werden beispielsweise an menschlichen oder tierischen Zellen getestet. Die Zellen werden im Reagenzglas so kultiviert, dass sie ihre Funktion, die sie im Körper ausgeübt haben, beibehalten. Es gibt einige Vorteile von Zellkulturmethoden gegenüber Tierversuchen. Sie sind kostengünstiger und schneller, da man an einer Zellkultur mehrere Substanzen testen kann. Bis allerdings eine Alternativmethode anerkannt ist, muss sie viele Studien durchlaufen. Das kann bis zu 15 Jahre dauern.
Bisher gibt es gerade einmal 20 tierversuchsfreie Methoden, die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) anerkannt wurden. Oft sind viele Alternativen auch noch nicht in der Lage, das komplexe Zusammenspiel aller Organe des Körpers vollständig abzubilden. Die jetzigen Methoden stellen häufig nur eine Ergänzung oder eine Vorstufe für einen Ersatz von Tierversuchen dar. So können zwar z. B. im Bereich der Medikamentenforschung durch Zellkulturversuche viele Substanzen schneller und günstiger getestet werden als das in Tierversuchen möglich wäre. Von diesen getesteten Substanzen wird dann aber oft eine bestimmte Auswahl auch an Tieren erprobt, um eventuelle Wechselwirkungen zu untersuchen, die in Zellversuchen nicht auftreten, wie beispielsweise die Verstoffwechselung durch die Leber, gepaart mit der Ausscheidung über Niere, Haut und Lunge. „In den kommenden zehn Jahren wird man nicht auf Tierversuche verzichten können“, sagt der Biochemiker Marcel Leist, der an der Universität Konstanz Alternativen zu Tierversuchen erforscht. Gerade darum müsse man fordern, dass Experimente so gestaltet werden, dass das Tier möglichst wenig leidet. Einigen Firmen ist auch schon der komplette Verzicht auf Tierversuche gelungen. Bayer entwickelte beispielsweise einen Labortests, der klärt, ob die Haut durch einen Wirkstoff lichtempfindlicher wird - eine unerwünschte und gefährliche Wirkung vieler Substanzen. Bei diesem „3T3 NRU Phototoxizitätstest“ werden Hautzellen in einer Nährschale mit ultraviolettem Licht bestrahlt. Der Einfluss auf die Zellviabilität wird dann verglichen mit nicht-UV-Licht behandelten Zellen. Die Aussagekraft dieses Tests wurde im Jahre 2003 von der OECD anerkannt. Früher standen zur Erforschung dieses Effekts ausschließlich Tierversuche zur Verfügung. Diese entfallen nun komplett. Es beteiligen sich inzwischen einige Pharmaunternehmen und Hochschulen an Studien, mit denen die Aussagekraft alternativer Methoden im Vergleich zu Tierversuchen belegt werden soll. Damit wird heutzutage ein wichtiger Beitrag geleistet, diese neuen Methoden weltweit zu etablieren. Doch man wird weiterhin auf Tierversuche angewiesen sein – ob man überhaupt irgendwann einmal komplett auf Labortiere verzichten kann, liegt in den Sternen. Interessante Links zum Thema: Plädoyer für mehr Versuchstierkunde Fernsehbeitrag - Tierversuche und Alternativen Ärzte gegen Tierversuche e. V. Diskussionsrunde: Dürfen wir töten, um zu leben? Fernsehbeitrag: Wie sinnvoll sind Tierversuche wirklich?