Defekte im Chromosom Nummer 5 führen zum Katzenschrei-Syndrom. Heute haben Betroffene trotz starker Einschränkungen gute Prognosen – dank lebenslanger Förderung und medizinischer Begleitung. Dennoch gilt es, individuell zu therapieren.
Es gab viele Indizien: Britische Pädiater fanden bei der Untersuchung eines Kleinkindes kongenitale Plattfüße, die chirurgisch behandelt werden mussten. Auch gab der Entwicklungszustand Anlass zur Sorge. Weitere Untersuchungen folgten. Schließlich stießen Kollegen auf eine partielle Deletion am Chromosom Nummer fünf, bekannt als Cri-du-chat-Syndrom (CDC), Katzenschrei- oder „5p-minus“-Syndrom.
Die Krankheit wurde bereits 1963 vom französischen Kinderarzt und Genetiker Jérôme Lejeune beschrieben. Statistisch gesehen ist ein Kind pro 50.000 Lebendgeburten betroffen – Mädchen häufiger als Jungen, das Verhältnis liegt bei fünf zu eins. Aufgrund von Laryngomalazien, also krankhaften Erweichungen des Kehlkopfs, artikulieren sich Neugeborene mit katzenschreiartiger, hoher Stimme. Als weitere Ursache werden neuronale Gründe diskutiert. Bis zum zweiten Lebensjahr verschwindet das namensgebende Symptom häufig wieder. Zurück bleiben weitere Anomalien wie Wachstumsstörungen, Schwierigkeiten beim Essen und Trinken, kognitive und motorische Störungen, Verhaltensauffälligkeiten sowie Deformationen im Kopfbereich.
Bei 85 bis 90 Prozent aller Kinder mit CDC ist es zu einer de novo-Deletion auf dem kurzen Arm, p-Arm genannt, des Chromosoms Nummer fünf gekommen. Meist fehlt ein terminales Stück, seltener ein interstitielles. Die restlichen zehn bis 15 Prozent entstehen durch unbalancierte Chromosomentranslokationen mit Verlust an genetischem Material, wobei Eltern eine balancierte Form haben – häufig ohne davon zu wissen. Für manche Phänotypen konnten Humangenetiker „kritische Regionen“ im Erbgut identifizieren, die mit typischen Schreien (5p15.3) beziehungsweise mit Dysmorphologien und mentalen Handicaps (5p15.2) assoziiert sind. Dort befinden sich Gene, die für Semaphorin F und Catenin delta 2 codieren, zwei Proteine mit relevanter Funktion bei der Gehirnentwicklung. Deletionen in 5p15.33 betreffen die humane Telomerase Reverse Transkriptase, was ebenfalls mit phänotypischen Ausprägungen des CDC einhergeht. Äußere Einflussfaktoren für de-novo-Deletionen sind nicht bekannt. Mit hohen Dosen radioaktiver Strahlung steigt das Risiko chromosomaler Schäden aber generell. Anders als bei Trisomie 21 stellt das Alter der Mutter keinen Risikofaktor dar.
Nach der Geburt von Babys mit CDC sind Eltern und Ärzte gleichermaßen gefordert. Dr. Mary Carlin, Pädiaterin und Humangenetikerin aus den USA, hat schon früh phänotypische Ausprägungen untersucht. Als charakteristische Zeichen gelten bei Neugeborenen ein niedriges Geburtsgewicht, Muskelschwäche, ein kleiner, brachycephal geformter Kopf (Mikrozephalie), ein kleiner Kiefer (Mikrogenie), ein großer Abstand zwischen den Augenhöhlen (Hypertelorismus), eine sichelförmige Lidfalte (Epikanthus medialis), nach außen abfallende Lidachsen, Vierfingerfurchen sowie Veränderungen am Nasenrücken, an Ohren, Händen und Füßen. Neben dem charakteristischen Schreien haben Betroffene vor allem Schwierigkeiten beim Schlucken, Sondierungen sind jedoch nur selten erforderlich. Kardiologen greifen vor allem bei Septumdefekten ein. Hinzu kommen Malrotationen und aganglionäre Segmente im Darm (Morbus Hirschsprung), was zur Verstopfung führt. In Deutschland untersucht der Arzt und Humangenetiker Professor Dr. Ingo Kennerknecht, Münster, welche klinischen Probleme bei Menschen mit CDC besonders häufig auftreten. Als Ergebnis einer Fragebogenaktion fand er vor allem Erbrechen (bei bis zu 50 Prozent), Verstopfung (70 Prozent), Schlafstörungen (65 Prozent) sowie ein vermindertes Schmerzempfinden (75 Prozent). Auch kommt es zu wiederkehrenden Infekten des Atemsystems und des Mittelohrbereichs. Regelmäßige Zahnarztbesuche sind Pflicht, um Zahnfehlstellungen frühzeitig zu korrigieren. Da viele Menschen mit CDC an Strabismus beziehungsweise Myopie leiden, sollten augenärztliche Untersuchungen ebenfalls zur Routine gehören. Orthopäden berichten, dass sich ab dem mittleren Lebensalter oft eine Skoliose entwickelt. Sie behandeln darüber hinaus kongenitale Plattfüße oder Klumpfüße.
Neben Ärzten schreiten Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden zur Tat. Ihr Ziel ist, Menschen mit CDC lebenspraktische Fähigkeiten zu vermitteln. Gerade sprachlich sind Betroffene oftmals stark eingeschränkt. Hinzu kommen Verhaltensauffälligkeiten wie Kopfschlagen, Hyperaktivität, Beißen oder sich ständig wiederholende Verhaltensweisen. Der Intelligenzquotient, via „Wechsler Intelligence Scale for Children“ (WISC-III) bestimmt, liegt zwischen 20 und 50, in seltenen Fällen auch darüber. Als Bevölkerungsdurchschnitt gelten Werte zwischen 90 und 109. Jetzt verglichen Wissenschaftler ähnliche Erkrankungen, bekannt als Autism Spectrum Disorders (ASD). Dazu gehören neben dem CDC das Cornelia-de-Lange-Syndrom oder das Angelman-Syndrom. Ein Resultat: Menschen mit CDC waren in puncto Kommunikation weniger benachteiligt als Menschen mit anderen ASD. Trotzdem gibt es keine generellen Prognosen, und Kinder entwickeln sich ganz unterschiedlich. Umso wichtiger ist, sie gezielt zu fördern. Eine Online-Befragung hat gezeigt: Eltern sehen manchmal eher Defizite als Stärken ihres Nachwuchses.
Ein Fazit: Dank medizinischer Betreuung und komplexer Förderung ist die Mortalität bei Menschen mit CDC in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken. Rund 75 Prozent aller statistisch erfassten Todesfälle ereignen sich in den ersten Lebensmonaten, und gar 90 Prozent im ersten Lebensjahr. Groß angelegte Studien zur Lebenserwartung gibt es aber noch nicht.