Die Auffassung, HIV-Infektionen beträfen vor allem junge Leute, ist weit verbreitet – auch unter Ärzten. Dabei sind jährlich etwa 15 Prozent der neu diagnostizierten Deutschen über 50 Jahre alt. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung ist gerade bei älteren Patienten wichtig.
Die Infektion mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) ist ein relativ junges Phänomen: HIV wurde erstmals 1983 beschrieben und hat sich seit Beginn der 1980er Jahre auf der ganzen Welt ausgebreitet. Aufklärungskampagnen, Präventions- und Behandlungsmaßnahmen richten sich dabei meist an Jugendliche, junge Erwachsene und Erwachsene mittleren Alters. Eine Gruppe wird dabei häufig übersehen: Die wachsende Zahl älterer Menschen, die mit HIV infiziert oder von einem Ansteckungsrisiko betroffen sind. So glauben viele ältere geschiedene oder verwitwete Menschen, die erneut auf Partnersuche gehen, dass AIDS in ihrer Altersgruppe kein Thema sei. Sie unterschätzen das Risiko, sich mit HIV zu infizieren. „Es hält sich hartnäckig das Missverständnis, dass HIV eine Erkrankung jüngerer Menschen sei – vor allem jüngerer homo- oder bisexueller Männer“, erklärt Mark Brennan-Ing, Forschungsdirektor bei ACRIA, einer gemeinnützigen Forschungsorganisation für HIV und AIDS mit Sitz in New York City. Über seine Erkenntnisse berichtete der Psychologe bei der 125. Jahrestagung der American Psychological Association in Washington D.C.
Tatsächlich nimmt mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung weltweit auch die Zahl älterer Menschen mit HIV oder AIDS zu. So wird geschätzt, dass in den hoch entwickelten Ländern fast die Hälfte der HIV-Infizierten 50 Jahre oder älter ist. Nach Angaben der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) treten 17 Prozent der Neuinfektionen mit HIV in dieser Altersgruppe auf. Auch in Deutschland sind laut einem Bericht des Robert-Koch-Instituts etwa 15 Prozent der Neudiagnosen mit HIV in der Altersgruppe ab 50 Jahre zu beobachten. Bei älteren Erwachsenen wird eine HIV-Infektion häufig später nach der Ansteckung erkannt als bei jüngeren. Gleichzeitig wird bei ihnen häufiger bereits bei Entdeckung der HIV-Infektion die Diagnose AIDS gestellt: In den USA war dies bei 40 Prozent der über 55-Jährigen, bei denen eine HIV-Infektion diagnostiziert wurde, der Fall. Das führt dazu, dass erst relativ spät eine Behandlung eingeleitet werden kann und bereits größere Schädigungen des Immunsystems vorliegen können. Eine aktuelle Studie zeigt weiterhin, dass die Lebenserwartung von HIV-Infizierten über 50 Jahre zwar in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat: Sie ist im Zeitraum 2006 bis 2014 im Vergleich zu den Jahren 1996 bis 1999 um 10 Jahre gestiegen. Dennoch ist sie niedriger als die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung. So haben selbst HIV-Infizierte dieser Altersgruppe, die eine gute Behandlung erhalten und keine Begleiterkrankungen oder Symptome von AIDS aufweisen, eine geringere Lebenserwartung als die durchschnittliche Bevölkerung. Darüber hinaus weisen ältere Erwachsene mit HIV häufig körperliche Merkmale oder Erkrankungen auf, die normalerweise erst in einem höheren Lebensalter auftreten.
„Sowohl ältere Menschen selbst als auch Mitarbeiter im Gesundheitssystem haben häufig die falsche Vorstellung, dass das Risiko einer HIV-Infektion im höheren Alter gering ist“, berichtet Brennan-Ing. Das könne dazu führen, dass ältere Menschen mit HIV im Gesundheitssystem „übersehen“, nicht auf eine Infektion getestet und auch nicht angemessen behandelt werden. „Im Moment sind medizinische und soziale Systeme wenig darauf ausgerichtet, auf die Bedürfnisse älterer Menschen mit einer HIV-Infektion einzugehen. Das vermeintlich geringe Risiko älterer Erwachsener verhindert, dass stärker in Aufklärungsprogramme, umfassende HIV-Tests und systematische Behandlungsansätze für diese Bevölkerungsgruppe investiert wird.“ Gleichzeitig sehen sich viele ältere Menschen, die mit HIV infiziert sind, Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt – sowohl wegen der HIV-Infektion als auch wegen ihres Alters. So hat eine Studie aus den USA ergeben, dass zwei Drittel der älteren Erwachsenen, die mit HIV infiziert sind, bereits Diskriminierungen erlebt haben. Diese können zu starken psychischen Belastungen führen, die sich wiederum ungünstig auf die körperliche Gesundheit auswirken können. „Stigmatisierungen führen zu sozialer Isolation – entweder, weil die Betroffenen von anderen zurückgewiesen werden oder weil sie sich selbst zurückziehen. Daraus folgt Einsamkeit, häufig treten auch Depressionen auf“, erklärt Brennan-Ing. „Weiterhin kann die Angst vor Stigmatisierung dazu führen, dass die Betroffenen nicht mit anderen über ihre HIV-Infektion sprechen und so auch nicht angemessen behandelt werden können.“ Auch negative Erwartungen bezüglich der eigenen Gesundheit im höheren Alter und das Wissen, mit HIV infiziert zu sein, können Stress und eine hohe psychische Belastung mit sich bringen. Daraus können weitere Problemen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen folgen. Schließlich können negative Erwartungen hinsichtlich der eigenen Gesundheit dazu führen, dass sich die Betroffenen nicht mehr um ihre Gesundheit kümmern und Vorsorge- oder Therapiemaßnahmen vernachlässigen.
Wichtig sei deshalb, auch für ältere Erwachsene Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen einzuführen sowie Beratungsstellen einzurichten, die sich gezielt an diese Altersgruppe richten. So haben ältere Erwachsene nach Angaben des CDC die gleichen Risikofaktoren für eine HIV-Infektion wie jüngere. Allerdings unterschätzen viele ihr Risiko, sich mit HIV zu infizieren. So glauben viele ältere geschiedene oder verwitwete Menschen, die erneut auf Partnersuche gehen, dass AIDS in ihrer Altersgruppe kein Thema sei. Und Frauen nach den Wechseljahren, bei denen die Schwangerschaftsverhütung wegfällt, greifen möglicherweise seltener zu Kondomen, die vor sexuell übertragbaren Erkrankungen (STD), also auch HIV, schützen.
Aber genauso müssten Fachleute im Gesundheitssystem verstärkt auf dieses Thema aufmerksam gemacht werden, betont Brennan-Ing. „Sie sollten darin geschult werden, eine HIV-Infektion frühzeitig zu erkennen und auch ältere Erwachsene zu einem HIV-Screening zu motivieren sowie zeitnah eine antiretrovirale Therapie einzuleiten“. Wichtig sei auch, Behandlungsleitlinien für ältere Menschen mit HIV zu entwickeln. Denn diese weisen viel häufiger als jüngere Patienten Begleit- oder Folgeerkrankungen auf. Zudem haben HIV-Infizierte generell ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle und bestimmte Krebsarten, gerade bei älteren Patienten sollten Ärzte an dieser Stelle also besonders wachsam sein. Auch die Therapie der HIV-Infektion kann in höherem Alter zu mehr Nebenwirkungen führen. Schließlich können Wechselwirkungen mit Medikamenten für andere Erkrankungen auftreten, die im Alter häufiger vorkommen – etwa Bluthochdruck oder Diabetes mellitus. All dies muss bei der Behandlung sorgfältig berücksichtigt werden.
Deshalb sollten in diesen Bereich auch mehr Gelder für Forschung und eine verbesserte Versorgung investiert werden, so Brennan-Ing. Dazu gehöre auch, mehr soziale Einrichtungen zu etablieren, die Beratung sowie psychologische und soziale Unterstützung für ältere HIV-Infizierten zur Verfügung stellen. Solche Beratungsstellen könnten die Betroffenen bei Ängsten oder Depressionen in Zusammenhang mit der Erkrankung oder bei psychischen Belastungen durch soziale Ausgrenzung unterstützen. „Es ist sehr wichtig, sich mit dem Versorgungsbedarf dieser Bevölkerungsgruppe auseinanderzusetzen“, sagt Brennan-Ing. Die zunehmende Alterung von Menschen mit HIV stelle vor allem in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Entwicklungsstand, in denen die medizinische Infrastruktur hoch entwickelter Länder fehle, eine große Herausforderung dar. „Doch das Thema bietet auch die Möglichkeit, eine Antwort auf globaler Ebene zu entwickeln, die gezielt auf die Bedürfnisse der betroffenen Menschen in unterschiedlichen Regionen und Situationen eingeht“.