„Er ist nicht mehr der Alte nach der OP“, hört man Angehörige häufiger sagen. Gerade bei älteren Patienten treten postoperativ vorübergehende Gedächtnisprobleme auf, die meist auf die Narkose zurückgeführt werden. Einige Forscher postulieren gar bleibende Veränderungen im Gehirn.
US-amerikanische Mediziner gaben noch im Mai 2013 im Fachblatt „Mayo Clinic Proceedings“ Entwarnung. „Es gibt viele Gründe besorgt zu sein, wenn ältere Menschen operiert werden müssen, aber die Angst vor Alzheimer gehört eher nicht dazu“, sagt David Warner von der Mayo Clinic in Rochester, der Leiter des Forscherteams. Grund für seine Studie waren Ergebnisse früherer Tierversuche, die nachwiesen, dass eine Anästhesie zu einer vermehrten Ablagerung von Beta-Amyloiden und Neurofibrillen führt. Dies ist auch typisch für Morbus Alzheimer. Nichts ist aber so alt wie die Nachricht von gestern.
Ganz anders sieht dies eine französische Forschergruppe, die Ihre Arbeiten nur einige Monate später publizierte. „Für ältere Menschen, bei denen nach einer Operation kognitive Störungen auftreten, sollten über einen längeren Zeitraum Kontrolluntersuchungen eingeplant werden“, so Francois Sztark von der Université Bordeaux Segalen. An der von ihm geleiteten prospektiven Studie nahmen ca. 7.000 Patienten im Alter von über 65 Jahren teil. Zum Studienbeginn hatte kein Proband Demenzbeschwerden. Im Beobachtungszeitraum erkrankten 632 Personen an Demenz, bei 284 Patienten vermutlich an Morbus Alzheimer. Das Demenzrisiko erhöht sich nach mindestens einer Vollnarkose um 35 Prozent. Andere Einflussfaktoren wie sonstige Krankheiten und Bildungsstand wurden berücksichtigt. Beide Studien hatten ein unterschiedliches Design, grobe Fehler waren nicht erkennbar. Prospektive Studien sind zwar grundsätzlich besser geeignet, um Hinweise auf kausale Erkrankungszusammenhänge zu liefern. Dennoch sind weitere Ergebnisse notwendig um Entwarnung zu geben oder zu vermehrter Vorsicht zu raten.
Roderic Eckenhoff von der University of Pennsylvania in Philadelphia ist ebenfalls überzeugt, dass eine Narkose einer Alzheimererkrankung einen progredienten Schub verpassen kann. Er sieht aber nicht den Anästhesisten als „Schuldigen“, sondern den Chirurgen. Nicht die Narkose löst eine Exazerbation der Erkrankung aus, sondern cerebrale Entzündungsprozesse. Auch wenn unklar ist, ob eine Narkose oder eine OP das Risiko für Demenz steigert, lohnt es sich der Frage nachzugehen, ob eine Anästhesie die Kognition kurzfristig oder gar dauerhaft verändert.
Bedford war der Erste, der bereits 1955 beschrieb, dass kognitive Fähigkeiten wie Sprache, abstraktes Denken, Flexibilität, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Wahrnehmung nach einer Operation vermindert sind. Er bezeichnete dies als POCD (postoperative cognitive dysfunction). Eine einheitliche Definition oder gar eine ICD-Klassifizierung existiert bis heute nicht. Die Prävalenz einer POCD variiert zwischen drei und 60 Prozent und kann im allgemeinchirurgischen Bereich noch nach 1,5 Jahren bei bis zu einem Prozent der Patienten fortbestehen. Im Bereich der Herzchirurgie wird die POCD-Rate sogar mit bis zu 66 Prozent angegeben. Auch bei der Entlassung aus dem Krankenhaus leiden noch 30 Prozent der Operierten unter 60 Jahren und 40 Prozent der Älteren unter kognitiven Störungen. Drei Monate später sind es noch fünf Prozent der Jüngeren und zwölf Prozent der Senioren. Die über mehrere Monate persistierende POCD ist signifikant mit Behinderungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens und mit einer 1,63-fach erhöhten Mortalität assoziiert. Als Synonyme für kognitive Defizite nach operativen Eingriffen und Anästhesie finden sich häufig die Begriffe Durchgangssyndrom, Delir, Verwirrtheit, kognitive Dysfunktion oder neuropsychologische Auffälligkeiten.
Saczynski et al. untersuchten in einer Studie mit 225 Patienten, Mindestalter 60 Jahre, mit einer Koronarbypass-Operation oder ein Herzklappenersatz das Auftreten eines postoperativen Delirs. Die kognitive Funktion wurde am Tag zwei vor der Operation mit dem Mini-Mental State Examination (MMSE) und im ersten, sechsten und zwölften Monat postoperativ untersucht. Zur Delirdiagnose wurden Kriterien wie unstrukturiertes Denken, fehlende Aufmerksamkeit, Bewusstseinsveränderungen und Fluktuationen herangezogen. 46 % der Patienten entwickelten ein postoperatives Delir, früher als Durchgangssyndrom bezeichnet. Die meisten erholten sich in den ersten Tagen. Bei einer Untersuchung am zweiten Tag postoperativ hatten die Delirpatienten 7,7 Punkte im MMSE eingebüßt gegenüber nur 2,1 Punkten bei Patienten ohne Delir. Bei einer Nachuntersuchung nach einem Monat war noch ein leichtes Defizit nachweisbar (24,1 versus 27,4 Punkte im MMSE; p < 0,001). Bemerkenswert erscheint, dass auch nach 6 Monaten ein größerer Anteil der Patienten immer noch erhebliche Defizite aufwies und den präoperativen MMSE-Level (40 vs. 24 %) nicht erreicht. Darunter auch Patienten ohne Delir. Selbst nach einem Jahr waren noch Einbußen messbar, wenn auch nicht mir signifikant. Die Autoren sahen als Risikofaktor für eine langsamere Erholung einen niedrigen präoperativen MMSE-Wert.
Der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten des POCD ist das Lebensalter. Patienten, die in Ruhe höhere Werte auf der visuellen Analogskala (VAS) für Schmerz angeben, weisen ein höheres Risiko auf, in den ersten 3 postoperativen Tagen ein POCD zu entwickeln. Jüngere Patienten leiden meist „nur“ unter Konzentrationsstörungen und geben an, Probleme bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess zu bekommen. Ältere Betroffene bleiben viel länger teilnahmslos und immobil. Patientenabhängige Faktoren
Patientenunabhängige Faktoren
[Nach: C.D. Kratz, A. Schleppers, T. Iber, G. Geldner (2005), Pharmakologische Besonderheiten und Probleme des älteren Patienten, Anaesthesist 2005; 54:467-475]
Unabhängig ob die Narkose oder die Operation selber für kognitive Störungen verantwortlich ist, scheint der Grund in einem gestörten neurobiochemischen Transmittergleichgewicht zu liegen. Zu wenig Acetylcholin und/oder ein Überschuss der monoaminergen Transmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin gelten als eine harte Hypothese für die postoperativen Defizite. Da fast alle Pharmaka, die bei einer Narkose eingesetzt werden, in das neuronale Gleichgewicht eingreifen, stellt sich die Frage nach Unterschieden der Narkoseform und der Auswahl der Medikamente. Untersuchungen der verbalen Leistungsfähigkeit, der Aufmerksamkeit, des impliziten Gedächtnisses sowie der visuell räumlichen Leistung haben gezeigt, dass die kognitive Beeinträchtigung unabhängig von der Narkoseform gleichermaßen gestört werden. Es spielt erstaunlicherweise also keine Rolle, ob eine Allgemeinanästhesie oder eine Regionalanästhesie durchgeführt wurde, dies belegen u.a. Studien von Wu, Cl. et al.
Die Wirkdauer der eingesetzten Anästhetika schein eine entscheidende Rolle bei der Auslösung eines POCD zu spielen. Bei prädisponierten Patienten sollten keine langwirksamen Medikamente verwendet werden. Also lieber Midazolam statt Diazepam. Zu den kurzwirksamen Substanzen gehören u.a. auch Methohexital, Propofol, Sevofluran, Desfluran oder Remifentanil. Die Gabe von Atropin und Pethidin scheint das Risiko zu erhöhen. „Entgegen vieler Vermutungen ist es bis heute nicht nachgewiesen, dass die Verwendung bestimmter Anästhesieverfahren einen positiven oder negativen Einfluss auf das Auftreten einer postoperativen Verschlechterung der kognitiven Funktion hat. Trotz der Häufung der Publikationen zum Thema postoperative kognitive Dysfunktion fällt allerdings auf, dass die gefundenen Ergebnisse inhomogen und schwer vergleichbar sind, da viele Untersuchungen leider eine ungeeignete Methodik einsetzen“, so die Forscher Schellhaaß und Boldt der Klinik Ludwigshafen.
Auch wenn ein höheres Lebensalter ein bedeutsamer Risikofaktor für „postoperative Denkstörungen“ ist, sind auch Kinder getroffen. In der Studie von Flick et al. wurden 350 Kinder, die im Alter bis zu zwei Jahren zwei oder mehr Narkosen erhalten hatten, mit 700 gematchten Kontrollen verglichen: Lernschwierigkeiten traten bei den exponierten Kindern auch nach Adjustierung für verschiedene Störfaktoren doppelt so häufig auf. Ergebnis der Studie: Die mehrfache Exposition mit Sedativa und Narkotika scheint die Hirnentwicklung negativ zu beeinträchtigen. Bei einer einmaligen Narkose scheint dieser Effekt nicht einzutreten.
„Eine gesicherte evidenzbasierte medikamentöse Prophylaxe gegen das Auftreten des Delirs gibt es im Moment noch nicht“, schreiben Siegmund et al. in einer zweiteiligen Übersicht. Auch wenn sich die Häufigkeit des Auftretens nicht senken lässt, ist dies zumindest bei der Dauer und der Stärke bedingt möglich. Kalisvaart et al. konnten bei 430 Patienten mit Hüftoperationen mit der prophylaktischen Gabe von 3mal 0,5 mg Haloperidol zwar nicht die Inzidenz, aber die Dauer des Delirs um im Mittel 6,5 Tage und die Länge des Klinikaufenthaltes um 5,5 Tage verkürzen. Auch Risperidon vor Herzchirurgischen Eingriffen scheint hilfreich zu sein. Obwohl ein abfallender Acetylcholinspiegel maßgeblich für delirante Zustände verantwortlich gemacht wird, bringt die präoperative Gabe eine ACh-Hemmers erstaunlicherweise nichts. Das menschliche Gehirn ist eben doch mehr als das Zusammenspiel eines neurobiochemischen Mobiles.