Immer wieder gibt es Zwischenfälle bei der Behandlung durch Heilpraktiker. Experten des Münsteraner Kreises halten Reformen für überfällig. Sie sehen zwei Wege: umfassende Maßnahmen zur Qualifizierung oder ein generelles Verbot des Berufsstands. Dr. Christian Weymayr im Gespräch.
In Deutschland sind Behandlungen bei Heilpraktikern beliebter denn je, das zeigen aktuelle Befragungen von Marktforschungsinstituten. Immer wieder kommt es zu Zwischenfällen. Mitte 2016 starben drei Patienten im „Biologischen Krebszentrum Bracht“ am Niederrhein. Unter evidenzbasierten Therapien hätten die Personen vermutlich länger gelebt. Trotzdem blieb alles beim Alten. Anlass genug für den Münsteraner Kreis, ein interdisziplinäres Expertengremium, grundlegende Reformen anzumahnen. DocCheck News sprach mit Dr. Christian Weymayr aus Herne über das jetzt veröffentlichte Memorandum. Er ist einer der federführenden Autoren des Memorandums und freier Medizinjournalist. Herr Weymayr, warum sind Reformen des Heilpraktikerberufs dringend erforderlich? Die Frage sollte vielmehr lauten, warum gibt es überhaupt noch Heilpraktiker. Diese Parallelwelt zwischen evidenzbasierter Medizin und Verfahren ohne wissenschaftliche Fundierung ist in meinen Augen absolut nicht nachvollziehbar. Wir haben seit Veröffentlichung des Memorandums vor drei Tagen von etlichen Ärzten Zuschriften bekommen, deren Patienten beim Heilpraktiker falsch oder gar nicht behandelt wurden. Man darf jedoch nicht auf einem Auge blind sein – die Schulmedizin hat genauso ihre Probleme. Auch hier kommt es zu Schäden durch Über-, Unter- und Fehlversorgung. Dr. Christian Weymayr © privat Welcher Schaden entsteht noch durch Heilpraktiker bzw. durch ärztlich tätige Anbieter komplementär-alternativer Verfahren? Der größte Schaden entsteht in unseren Augen durch den Vertrauensverlust beim Patienten. Ärzte oder Heilpraktiker, die Alternativverfahren anbieten, ohne zu erklären, dass wissenschaftliche Grundlagen fehlen, handeln nicht wahrhaftig. Das ist unethisch. Würde mir ein Arzt Kügelchen aufschreiben, dann wäre mein Vertrauen erschüttert. Ich könnte mich nicht mehr darauf verlassen, was der Arzt sagt. In dem Moment bewegt er sich nicht mehr auf dem Boden der Wissenschaft. Woher weiß ich, wie gut begründet seine anderen Maßnahmen sind? Wer aufklärt, schadet sich also selbst? Genau! Falls ein Heilpraktiker oder Arzt seinen Patienten zehn Minuten lang erklärt, warum die geplante Behandlung eigentlich Unsinn ist, hat er Zeit verloren. Eine korrekte Beratung ist deshalb eigentlich nicht zu erwarten. Das ist eines der Probleme. Als Konsequenz fordern Sie, den Beruf abzuschaffen. Wie könnte das aussehen? Eine Möglichkeit wäre, keine neuen Zulassungen mehr zu vergeben. Im Jahr 1939 gab es bereits den Versuch, Heilpraktiker abzuschaffen. Es sollten nur noch in großen Ausnahmefällen Zulassungen erteilt werden. Damit wäre der Beruf auf Dauer ausgestorben. Im Nachkriegsdeutschland wurde das Gesetz so abgeändert, dass wieder neue Zulassungen erteilt wurden. Die Alternative ist eine Kompetenzlösung. Was verstehen Sie darunter? Wir meinten nicht, die jetzt gebräuchlichen Heilpraktiker-Maßnahmen auf Sektoren aufzuteilen, sprich ein Physiotherapeut mit Heilpraktiker-Zulassung würde Krankheitsbilder des Bewegungsapparats mit den üblichen Verfahren diagnostizieren und behandeln. Vielmehr müsste man alle jetzigen Verfahren auf ihre Evidenzbasierung hin überprüfen. Und es könnte gut sein, dass dann so gut wie nichts übrig bleibt. Ein Heilpraktiker nach dieser Definition hätte dann mit aktuell tätigen Heilpraktikern kaum noch etwas gemeinsam. Dann hätte der Begriff „Heilpraktiker“ endlich seine Bedeutung im Sinne des Wortes: jemand, der praktisch heilt. Jetzt sehe ich das als Etikettenschwindel an. Ihre Vorstellung von einer zeitgemäßen Heilpraktikerausbildung? Schon heute unterrichten die Heilpraktiker-Schulen Anatomie und Physiologie. Schwierig wird es bei der Diagnostik und der Therapie. Vor mehr als 150 Jahren haben sich die Verfahren von der wissenschaftlichen Medizin gelöst. „Erst mit der Anerkennung der Virchow'schen Zellularpathologie im vorigen Jahrhundert gehen akademisch-ärztliche Medizin und Naturheilkundler in ihren Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit getrennte Wege“, schreibt beispielsweise der Dachverband Deutscher Heilpraktiker. In ihrem Grundverständnis berufen sich Heilpraktiker auf Theorien der Naturheilkunde, die längst als falsch erkannt worden sind. Dazu gehört beispielsweise die antike Säftelehre. Genau hier muss eine moderne Ausbildung ansetzen und Inhalte zur evidenzbasierten Therapie vermitteln. Gesetzliche Krankenversicherungen würden so die Möglichkeit verlieren, homöopathische Präparate als freiwillige Satzungsleistung zu erstatten. Das ist ein Unding. Was kommt als nächstes – Auspendeln als freiwillige GKV-Leistung? Versicherungen sollen wirtschaftlich mit den Geldern ihrer Mitglieder umgehen. Hinzu kommt, dass sich Krankenkassen ansonsten auf Evidenz berufen und nur Leistungen bezahlen, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss dementsprechend bewertet worden sind. Kassen sollten auch freiwillig keine Maßnahmen erstatten, die nicht evidenzbasiert sind. Da sie mit dem Argument der Evidenzbasierung Leistungen wie den PSA-Test verweigern, haben sie ein Glaubwürdigkeitsproblem. Reichen die von Ihnen umrissenen Reformen bei Heilpraktikern wirklich aus oder müssten Ärzte selbst umdenken? Das könnte ein guter Nebeneffekt der Heilpraktiker-Diskussion sein: Auf die Schulmedizin wird der Druck erhöht, Ihren Patienten mehr zuzuhören und mehr auf deren Situation einzugehen. Das ist auch die Forderung der Evidenzbasierten Medizin, die individuellen Bedürfnisse und Präferenzen von Patienten berücksichtigt. Insofern ist es eine Unterstellung der Alternativszene, dass nur diese gut zuhören könne. Hinzu kommt: Worum geht es im Gespräch beim Heilpraktiker? Bei einer homöopathischen Anamnese wird zu 90 Prozent über Dinge geredet, die dem Homöopathen helfen, das vermeintlich richtige Mittel zu finden, die aber mit den eigentlichen Beschwerden nicht zu tun haben. Deshalb: mehr reden ja, aber über relevante Inhalte. Das Memorandum ist jetzt online. Wie geht es weiter? Auf alle Fälle wollen wir als Münsteraner Kreis weiterhin aktiv bleiben. Ich hoffe, dass Politiker durch das Memorandum und durch die Personen dahinter gestärkt werden, auch möglicherweise unbequeme Schritte zu gehen. Genauso wichtig ist uns jedoch, Diskussionen in der Öffentlichkeit anzuregen. Ich befürchte, viele Patienten wissen nicht, dass sie beim Heilpraktiker eine evidenzfreie Zone betreten. Diese Information ins Bewusstsein zu rücken, wäre allein schon ein wichtiger Schritt.