Die Übergewichtsdebatte fand ich irgendwie schon immer übertrieben. Ich war das Verteufeln der sogenannten Droge Zucker genauso leid, wie die Warnungen vor der angeblich drohenden Adipositas-Epidemie. Und dann kam meine erste Reise in die USA.
Der Pixar-Film Wall-E, dessen Held ein kleiner Roboter ist, zeigt ein unschönes Zukunftsszenario. Im Jahr 2805 leben die verbliebenen Menschen in einem Raumschiff und bewegen sich praktisch gar nicht. Sie sitzen die ganze Zeit in schwebenden Sesseln und nehmen künstliche Nahrung zu sich. Wenn sie doch einmal aufstehen, können sie sich nur wabernd fortbewegen. Ihre massigen unförmigen Körper erlauben es nicht anders. Bisher hatte ich im realen Leben wenige solcher Menschen gesehen. Während meines Urlaubsaufenthalts in Chicago sah ich sie hingegen täglich. Menschen, die wegen ihrer Leibesfülle Probleme hatten, im Bus oder in der U-Bahn durch den Mittelgang zu gehen. Für deren Körpermasse ein einzelner Sitzplatz bei weitem nicht mehr genügte. Die sich nur noch auf diese spezielle, schwankende Art und Weise bewegen konnten. Menschen, deren Lebensqualität und Gesundheit ganz eindeutig darunter litten.
Den letzten Zahlen zufolge, die vom Center for Disease Control and Prevention veröffentlicht wurden, sind gut 38 Prozent der Amerikaner adipös, haben also einen BMI von 30 oder mehr. Nach Zahlen des National Health and Nutrition Examination Surveys haben mehr als 6 Prozent der Erwachsenen sogar einen BMI über 40.
Warum sind die Amerikaner also so dick? Einige Gründe dafür sind recht offensichtlich: Der Lebensstil vieler hier ist gar nicht so weit von dem entfernt, was im Film Wall-E gezeigt wird. Sie bewegen sich im Job und privat nur sehr wenig und fahren mit dem Auto zum Drive-in-Schalter des Fastfood-Diners um die Ecke. Wer mehr als einen Block läuft, hält dabei den obligatorischen To-go-Becher in der Hand. Dieser ist gefüllt mit Karamell-Chocolatechip-Frapucccinos oder Milchmix-Getränken in unvorstellbaren Größen. Beispielsweise deckt der beliebte „Triple-Thick-Shake‟ von McDonalds mit seinen 1.100 Kalorien auf rund 900 ml mehr als den halben Tagesbedarf einer normalgewichtigen Frau ab.
Süßes gibt es an jeder Ecke Süßigkeiten und Fastfood sind nicht nur vergleichsweise günstig und überall verfügbar, auch die Werbung dafür ist allgegenwärtig. Selbst auf den Anzeigetafeln, auf denen eigentlich über den U-Bahnverkehr informiert wird, erscheinen regelmäßig sahnige Eiscremeberge oder appetitliche Donutkringel. Es ist im Grunde so, als würden einem den ganzen Tag lang Kekse und Schokolade unter die Nase gehalten. Gutes Essen hingegen ist teuer, nicht überall zu kaufen und aufwendig zuzubereiten. Ich selbst merke schon nach zwei Wochen, dass ich im Restaurant öfter als sonst einen Burger bestelle. Der ist schließlich stets die günstigste Mahlzeit. Einkommensschwache Eltern machen häufig gleich mehrere Jobs mit Mindestlohnbezahlung, um eine Familie über Wasser zu halten. Wenn sie ihren Kindern abends der Einfachheit halber ein Happy-Meal mitbringen, kann ich das gut verstehen. Im Feinschmeckersupermarkt Marianos, wo die Wohlhabenden einkaufen, bekommt man für den gleichen Preis gerade einmal ein Paket Nüsse oder einen grünen Smoothie.
So ist Armut auch hier unübersehbar ein wichtiger Risikofaktor für Fettleibigkeit. Offensichtlich wird das, wenn man mit dem Bus durch ein ärmeres Stadtviertel fährt: Immer mehr sehr dicke Menschen steigen ein. Und weil die Armenviertel hier fast nur von Schwarzen bewohnt werden, sind es auch immer mehr Afroamerikaner. Mehr als 13 Prozent der erwachsenen Schwarzen in den USA haben einen BMI von 40 oder mehr. Genau wie Menschen hispanischer Abstammung sind sie noch häufiger als der Durchschnitt des gesamten Bevölkerung schwer übergewichtig. Das liegt zum einen an der Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft: Sowohl Afroamerikaner als auch Hispanics haben häufig ein niedrigeres Einkommen und schlechtere Bildungschancen. Das erhöht das Risiko für Adipositas. Außerdem leben sie überwiegend in ärmeren Wohngegenden. „Die Lebenssituation in diesen Vierteln spielt eine wichtige Rolle‟, sagt Adam Becker, Dozent für Pädiatrie am Universitätsklinikum der North Western University und Vorstandsmitglied des Consortium to Lower Obesity in Chicago Children (CLOCC).
Experten nennen die Armenviertel auch „Food Deserts“, also Essenswüsten, weil es dort kaum Läden mit einem Angebot frischer, gesunder Lebensmittel gibt. Diese Lücke wird von den Burgerketten nur allzu gerne gefüllt. „Ein schwarzes Kind sieht in seinem Umfeld täglich dreimal mehr Werbung für ungesundes Essen als ein weißes“, erzählt Becker. Zudem kommt es in einigen Ecken Chicagos alle paar Tage zu Schießereien zwischen rivalisierenden Banden. „Die Kriminalitätsraten sind in diesem Umfeld so hoch, dass Kinder nicht mehr im Freien spielen können.“, so Becker. Es gibt keine Räume mehr, in denen sie ihren natürlichen Bewegungsdrang ausleben könnten. Zum Teil werde Übergewicht aber auch durch kulturelle Einflüsse begünstigt. So gelte ein rundliches Kind in vielen hispanischen Familien immer noch als besonders gesund. Tatsächlich sehe ich kleine Jungen und Mädchen dieser Familien selten ohne Lutscher, Eis oder andere Süßigkeiten in der Hand. Traditionell wird das Essen noch mehr zelebriert, was ja im Grunde auch kein Problem ist, wenn es selbst und aus frischen Zutaten zubereitet wird. Für viele hispanische Einwandererfamilien sei es aber ein Symbol für erreichten Wohlstand, sich Fertigprodukte leisten zu können. Deshalb seien sie sogar stolz, weniger kochen zu müssen, sagt Becker.
Meine Gastgeber in Chicago, die beide südamerikanischer Abstammung sind, scheinen ein perfektes Beispiel dafür zu sein. Sie sind beide schwer übergewichtig. Besuche in All-you-can-eat-Restaurants oder von Events wie dem „Ribfest“ gehören zu ihren liebsten Hobbies. Sie erzählen ständig stolz darüber. Beim gemeinsam Grillen esse ich zum Beispiel – ohne es zu merken – fünf Stücke Fleisch, weil beim Barbecue komplett auf Beilagen verzichtet wurde. Zum nächsten Grillabend steuere ich dann lieber einen Kartoffelsalat bei.
Initiativen für ein stärkeres Gesundheitsbewusstsein gibt es in den USA bereits viele. An einem Juninachmittag strampeln auf einem Platz zwischen den Wolkenkratzern von Downtown Chicago vorwiegend junge, fitte Amerikaner im Schatten eines Zeltdachs auf Spinning-Bikes. Trainer mit gestählten Körpern spornen die Masse mit lauten Kommandos an. Die American Heart Association und die American Stroke Association wollen mit der Aktion Spenden sammeln und für einen gesünderen Lebensstil werben. Das Event wird gesponsert vom Konzern Amgen, einem Hersteller von Cholesterinsenkern, und von Cyclebar, einem der neuen hippen Spinning-Studios, in dem man sich in Club-Atmosphäre bei Diskobeleuchtung und lauter Musik ausschwitzen kann. Ein neuer Trend, den unter anderem Michelle Obama mitmacht. Eine junge Frau betritt die Bühne und berichtet, wie sie völlig unvorbereitet einen Schlaganfall erlitten hatte und sich nur wie durch ein Wunder davon erholte. Die Botschaft ist eindeutig: Es könnte jeden treffen. Daher gilt es zu strampeln, was das Zeug hält und sich am besten gleich im Zelt nebenan im Spinning-Studio anzumelden. Dafür sollte man allerdings 60 US-Dollar die Woche übrig haben. Ein sehr amerikanischer Versuch, ein Problem zu lösen – man holt sich diejenigen ins Boot, die versuchen damit Profit zu machen. Von den Übergewichtigen in den ärmeren Vierteln wird sich keiner so schnell auf dieses Event oder in die Cyclebar verirren. Bleibt die Frage: Wie sehen also bessere Lösungsansätze aus?
Eine Kombination verschiedener Ansätze gibt es zum Beispiel bei CLOCC, dem Konsortium, bei dem Adam Becker Vorstandsmitglied ist. Weil die Ursachen von Adipositas so vielschichtig seien, sollten es auch die Bekämpfungsmaßnahmen sein, sagt Becker. Zunächst gelte es, möglichst früh anzusetzen – die Programme richten sich schwerpunktmäßig an Kinder zwischen null und fünf Jahren. Eine CLOCC-Initiative unterstützt das Stillen für mindestens sechs Monate. Dadurch reduziere sich das Risiko für späteres Übergewicht um 22 Prozent. Schon Eltern von Babys wird beigebracht, Koordination und Aktivität bei den Kleinen zu fördern und das Wasser die bessere Alternative zu Cola und Saft ist. Bei CLOCC setzt man sich außerdem für eine bessere Verfügbarkeit von gesunden Lebensmitteln in Problembezirken und mehr Gelegenheiten zum Laufen und Fahrradfahren ein. Das Konsortium fordert die genauere Kennzeichnung von Lebensmitteln und besseres Schulessen. Im marktliberalen Amerika haben es solche Initiativen allerdings schwer. Als es Bestrebungen gab, Pommes frites aus der Schulkantine zu vebannen, machten Lobbyverbände der Kartoffelindustrie den Politikern Druck. Das führte dazu, dass im Senat ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob Pommes Frites nicht als Gemüse gelten müsten, weil sie aus Kartoffeln zubereitet werden. Auch Tomatensauce auf der Pizza wird zur Freude der Produzenten gern mal als Gemüsebeilage eingestuft. Die Obama-Regierung setzte immerhin einige Präventionsprogramme durch. Unter dem industriefreundlichen Trump, erzählt Adam Becker frustriert, werde es viel sinnvolles, das bereits angedacht war, nicht mehr geben. Zum Beispiel eine Ausweitung von Kalorienangaben.
All das rief bei mir die Angst wach, dass wir tatsächlich auch hierzulande auf ähnliche Probleme zusteuern könnten, wenn wir nicht handeln. Zwar ist die Situation in Deutschland bei weitem noch nicht so extrem - eine gute Nachricht, denn wirksam bekämpfen lässt sich Adipositas ohnehin vor allem durch Vorbeugung. Die allerdings sollte man stärker angehen. Und auch dabei kann man sich an den USA orientieren: Gute Ansätze gibt es dort nämlich reichlich. Es mangelt nur viel zu oft am politischen Willen. Was wir hier nicht brauchen, ist ein ungesunder Fitnesswahn, der sich an Äußerlichkeiten orientiert und schon bei Jugendlichen zu Essstörungen führt. Diese können genauso gesundheitsschädlich sein wie die Folgen von Übergewicht. Und mit der Zwangsvorstellung vom perfekten Körper werden ebenso Geschäfte gemacht wie mit Zuckerlimonade. Programme müssen stattdessen darauf abzielen, Kindern von klein an ein gesundes Körpergefühl zu vermitteln und ihren Bewegungsdrang zu fördern. Gesundes Essen muss für jeden bezahlbar und erkennbar sein. Verständliche Kennzeichnungen wie Lebensmittelampeln müsste es im Grunde schon seit vorgestern geben. Genauso wie ausgewogenes Schulessen. Steuern auf zuckrige Getränke und Werbebeschränkungen halte ich seit meinem Amerika-Aufenthalt ebenfalls für eine gute Idee. Für die Lobby der Lebensmittelindustrie – das zeigt das Beispiel USA – darf es ganz einfach kein Pardon mehr geben.