Das Mesotheliom gilt als Signaltumor für Erkrankungen, die oft erst viele Jahre nach dem Umgang mit Asbest auftauchen. In der Türkei gibt es Dörfer, in denen bis zur Hälfte der Bewohner an diesem seltenen Tumor sterben - ohne jeglichen Kontakt mit Asbest.
Von dem kleinen Ort in der Türkei wird bald nichts mehr zu sehen sein. Seine Bewohner haben sich unter sanftem Druck der Behörden zu einem Umzug an ein neugeplantes und -gebautes Dorf entschlossen. Dabei lag das alte in einer der malerischsten Landschaften des vorderen Orients: Kappadokien mit seinen vielen Kavernen und Felstürmen, die zum Unesco Kulturerbe zählen. Doch nun sollen die alten Häuser in den nächsten Jahren komplett mit Erde bedeckt werden.
Denn Tuzköy gilt schon seit langer Zeit als „verfluchter“ Ort. Hier starb jeder zweite Einwohner an einer unheimlichen Lungenkrankheit. Zwischen den ersten Anzeichen, einem Husten, und dem Tod verging meist weniger als ein Jahr. Dabei handelte es sich um einen sonst eher seltenen Tumor, ein Mesotheliom. Er trat hier und in zwei Nachbarorten jedoch rund 600 bis 800 Mal öfter als in den übrigen Regionen der Türkei oder in Europa auf. In einem Bericht im englischen Wissenschaftsmagazin „New Scientist“ vom April dieses Jahres erzählt Clare Wilson die spannende Geschichte von der Aufklärung der häufigen Todesfälle von Tuzköy, bei der Michele Carbone, Pathologe aus Hawaii, eine bedeutende Rolle spielt.
Seit Wissenschaftler in Deutschland seit den 1990er Jahren das Auftreten des Tumors in einem eigenen Register dokumentieren, steigt die Anzahl der Fälle unaufhörlich an. Im Jahr 2010 starben danach fast 1.400 Menschen an einem Mesotheliom, einem Vielfachen im Vergleich zu den Zahlen vor fünfundzwanzig Jahren. Warum? Die schwer behandelbare Erkrankung gilt als „Signaltumor“ für die Belastung mit Asbest und ist als Berufskrankheit anerkannt. Seit rund 1993 ist zumindest in Deutschland die Herstellung oder Verwendung dieser Mineralfaser nicht mehr erlaubt. Zwischen dem intensiven Kontakt mit Asbest und dem Ausbruch der Krankheit vergehen jedoch in der Regel 30-50 Jahre. Dementsprechend ist der Gipfel der Erkrankungshäufigkeit immer noch nicht erreicht.
Was aber die Einwohner der betroffenen Orte im türkischen Kappadokien angeht, führte der Asbest-Verdacht in eine Sackgasse. Stattdessen fand man jedoch ein anderes Gestein, das für die häufigen Tumorerkrankungen verantwortlich ist. Erionit ist wie Asbest ein Silikat, das in dieser Gegend in hoher Konzentration an die Erdoberfläche tritt. Ähnlich wie Asbest lagert es sich in der Lunge ab und sorgt dort für Entzündungen, die sich Jahrzehnte später zu einem Tumor auswachsen können. Im Vergleich zu Asbest zeigte Erionit in Tierversuchen sogar noch eine weitaus höhere karzinogene Wirkung. In der Natur kommen rund 400 Mineralien vor, die eine Faserform ausbilden. Erionit gehört zur Gruppe der Zeolithe, die als Ionenaustauscher und Bindemittel etwa bei der Asphaltproduktion, aber auch bei der Herstellung von Waschmitteln wichtige Dienste leisten. Asbest als „Mineral der tausend Möglichkeiten“ bezeichnet dagegen sechs verschiedene Silikate, deren Fasern sehr attraktive Eigenschaften haben: Nicht brennbar, elastisch und damit leicht zu verweben und extrem haltbar. Allein in Deutschland wurden 1976 im Westen und Osten zusammen rund 250.000 Tonnen Asbest verwoben und verbaut.
Nicht jeder, der aber mit der Faser in Berührung kam, entwickelte jedoch (bisher) einen Tumor. Bei der Suche nach zusätzlichen Faktoren für die maligne Transformation half die hohe Inzidenz dieser Erkrankung in den betroffenen Dörfern Kappadokiens weiter. Michele Carbone fand dort Familien, bei denen der Tumor weitaus häufiger als bei anderen zuschlug. Alles deutet dabei auf einen autosomal dominanten Erbgang eines wichtigen krebsauslösenden Faktors hin, der jedoch bis heute noch nicht bekannt ist. Ein anderes Suszeptibilitätsgen für das Mesotheliom fand er jedoch nicht am Bosporus, sondern in den USA. Auch hier gab es Familien, deren Mitglieder häufiger als andere betroffen waren. Carbone stieß dabei auf das Gen BAP1, das für ein Enzym namens Ubiquitin carboxy-terminal Hydrolase codiert. Im aktiven Zustand trägt es zur Kontrolle der Zellteilung bei. Keimzell- oder somatische Mutationen bei BAP1 begünstigen jedoch die Entstehung von Tumoren. Nach bisherigen Erkenntnissen betrifft das ganz besonders zwei Krebsformen: Uveale und kutane Melanome und das Mesotheliom.
Nach allem, was man bisher über das Mesotheliom weiß, spielen wohl mehrere Auslösefaktoren aus Umwelt und Genom zusammen, um den Tumor zum Wachsen zu veranlassen. Der toxische Umweltfaktor Erionit könnte dabei jedoch nicht nur in der Türkei eine wichtige Rolle spielen. Er kommt in vulkanischem Gestein auch in Amerika oder Australien vor. Im US-Bundesstaat North Dakota bekamen Straßen und Parkplätze neue Beläge mit den lokal vorkommenden gefährlichen Erionit-Fasern. Die Mesotheliomrate stieg zwar bisher nicht an, jedoch fanden Ärzte dort Arbeiter, deren Lunge stark an eine Asbestose erinnerte. Inzwischen haben die meisten dieser Strassen eine weitere Asphaltschicht ohne solche Mineralfasern auf den gefährlichen Belag bekommen. Auch in Deutschland kommt Erionit vor, etwa in der Eifel oder am Kaiserstuhl. Nach Auskunft der Leiterin des Mesotheliomregisters, Andrea Tannapfel von der Ruhr-Universität Bochum, ist eine Gefährdung oder eine Erhöhung der Tumorrate in diesen Gebieten bisher nicht belegt. Noch immer wird jedoch beispielsweise in Russland oder weniger entwickelten Gebieten der Erde Asbest gefördert und auch in immer noch zunehmendem Maß verbaut. Und auch in den Industriestaaten wie den USA und Westeuropa ist bisher nur Asbest von einem Verbot betroffen. Andere faserförmige Mineralien wie Erionit und die anderen 390 Minerale sind bisher nicht mit Auflagen belegt. In einem aktuellen Artikel in „Lancet Oncology“ fordert daher Carbone zusammen mit zwei französischen Kollegen eine strengere Aufsicht: „Wir schlagen vor, alle faserförmigen Mineralien als potentiell pathogen zu behandeln, solange ihre Unbedenklichkeit nicht bewiesen ist.“
Die Bewohner eines der drei betroffenen Orte in Kappadokien sind inzwischen weitgehend umgesiedelt. Bis die Mesotheliomrate jedoch zurückgeht, dürften noch ein bis zwei Generationen vergehen. Auch in Deutschland wird der Gipfel der asbestbedingten Lungentumoren erst zwischen 2015 und 2020 erwartet. Ob die Exposition mit anderen Mineralstoffen jedoch die Fallzahlen weiter hoch hält, darüber können auch Experten nur spekulieren. Fortschritte lassen sich jedoch zumindest für die Früherkennung von Mesotheliomen vermelden. So berichtete das New England Journal im Oktober letzten Jahres von einem Tumormarker (Fibulin-3) unabhängig von der Asbest-Exposition im Plasma. Weiterhin kann ein geschulter Arzt in vielen Fällen Träger der Mutation von BAP1 an charakteristischen Spitz-ähnlichen Nävi auf der Haut erkennen. Für die Therapie des malignen Mesothelioms steht in einigen Jahren nach entsprechenden klinischen Studien vielleicht ein Ansatz zur Verfügung, den Carbone zusammen mit Wissenschaftlern von der San Raffaele Universität in Mailand im International Journal of Cancer im Januar dieses Jahres veröffentlichten. Eine Vakzinierung mit dem Tumorprotein Survivin mit rekombinanten Viren erzeugte zumindest im Mausmodell eine deutliche Immunantwort gegen den Tumor.
Die ungewöhnliche Häufung der Mesotheliomfälle in der Türkei hat auf diese Weise zu vielen neuen Erkenntnissen über die immer noch seltene Krankheit geführt, die bisher fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Verwendung von Asbest bekannt war. Einer der Großen unter den amerikanischen Schauspielern, Steve McQueen, starb 1979 an den Folgen einer Mesotheliom-Erkrankung. Es ist zwar nur Spekulation, jedoch könnte er als junger Marinesoldat auf amerikanischen Kriegsschiffen oder als jugendlicher Rennfahrer mit feuerfesten Anzügen mit Asbest in Berührung gekommen sein. Bei einer Latenzzeit von etlichen Jahrzehnten sollten wir daher vorsichtig sein, wenn es um hitzebeständige und haltbare Materialien aus Gesteinsfasern geht. Asbestfasern wurden bei Betroffenen nicht nur in der Lunge gefunden, sondern auch in anderen Organen wie Leber, Nieren oder dem Gehirn. Wie sie dorthin gekommen sind, ist noch unbekannt.