Der Mensch ist ein Gewohnheitstier - so ist es zumindest zu erklären, dass einige Therapien sich trotz neuer Studiendaten scheinbar ewig halten. Die Halskrause beim Schleudertrauma gehört dazu – oder doch nicht?
Beim Schleudertrauma, auch als Beschleunigungstrauma bezeichnet, denkt man als Ursache meist an einen Autounfall. Doch auch Unfälle im Haushalt oder der Freizeit können die Auslöser sein. Ein Viertel aller Schleudertraumata passiert beim Sport. Die Traumakinematik beim "whiplash associated disorders" (WAD), so die korrekte Bezeichnung, läuft in drei Phasen ab:
1. Phase: Translation der Halswirbelsäulensegmente C0/C1 und C1/C2 2. Phase: Hyperflexion der Halswirbelsäulensegmente C0- C3 3. Phase: Hyperextension der Halswirbelsäulensegmente C5-C7
In einem PKW ohne Kopfstütze ist eine deutlich höhere Extension zu erwarten. Wie stark die anatomischen Strukturen in Mitleidenschaft gezogen werden, hängt u.a. von der Kopfstellung zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens ab. Ist der Kopf in Rotationsstellung sowie Seitneige eingestellt, ist das Ausmaß der Verletzung erheblich stärker. Das Beschleunigungstrauma wird nach Erdmann oder nach der Quebec Task Force unterschiedlich klassifiziert:
Nackenschmerzen als Eisbergspitze
Die Symptome bei einem Schleudertrauma sind nicht nur auf den Nacken und Hinterkopf beschränkt. Es kann zu Schwindel, Schluckstörungen, Sehstörungen, Schlafstörungen, Tinnitus und/oder Taubheitsgefühlen kommen. Die Ursachen sind u.a. Traumatisierungen aktiver und passiver Strukturen der Bandscheiben mit internen Rupturen oder Nekrosen, Kapselrupturen, Knorpelschäden, Luxationen im Bereich der Facettgelenke. Auch möglich sind Wirbelfrakturen, Muskelfaserrisse oder Störungen der Blutzirkulation der Arteria vertebralis. Bemerkenswert ist, dass die Beschwerden nach einem Beschleunigungstrauma von Land zu Land unterschiedlich sind. In den USA, Großbritannien und Deutschland werden von vielen Patienten chronische Beschwerden angegeben. In anderen Kulturen - beispielsweise Litauen, Griechenland, Singapur oder Neuseeland - ist ein derartiger chronischer Verlauf fast unbekannt. Hierbei scheinen psychologische und soziokulturelle Aspekte eine Rolle zu spielen. Ein Beweis für einen chronischen psychischen Schaden infolge des Traumas existiert nicht.
Nach einer Studie von Bortsov et al. vom Januar 2013 treten nach einem Autounfall nicht nur Schmerzen im Nacken auf. Einer von fünf Patienten klagt über ein generalisiertes Schmerzsyndrom. Auch nach leichten Unfällen sind starke generalisierte muskuloskeletale Schmerzen möglich. Untersucht wurden 890 Patienten im Alter zwischen 18 und 65 Jahren nach einem Unfall.
Less is more
Lamp et al. von der Universität in Warwick publizierte 2012 eine großangelegte Studie im Lancet. Untersucht wurde an 3.800 HWS-Patienten der Nutzen diverser Therapiestrategien wie Halskrause, Physiotherapie und Beratung. "Aggressives Zuwarten" scheint am besten zu sein. Sinnvoll ist neben einer Bewegungstherapie die ausführliche mündliche und schriftliche Beratung des Patienten. "Intensivere Formen der Betreuung beschleunigen den Heilungsverlauf nicht", so das Resüme. Die Halskrawatte sollte damit endgültig vom Tisch und Hals sein.
Dr. Robert Ferrari von der Universität von Alberta gibt folgende Tipps:
MRT passé?
"Ein Gesunder ist ein schlecht untersuchter Patient" - So kann man polarisierend sicherlich auch die Diagnostik und die sich daraus ableitende Therapie betrachten. Nach einem Unfall findet man mit dem MRT bestimmt immer irgendetwas Abnormes. Ob dies jedoch kausal für möglich Beschwerden verantwortlich ist, bleibt fraglich. "Die Patienten werden mehr durch die Diagnose traumatisiert als durch das eigentliche Trauma", kritisierte bereits vor 30 Jahren der kanadische Wirbelsäulen-Spezialist Prof. Ian Macnab vom Wellesley Krankenhaus in Toronto im Standardwerk "The Spine".
In einer im European Spine Journal veröffentlichten Studie aus dem Januar 2013 von Li, Shen et al. wurden Schleudertraumapatienten mit dem MRT differenziert untersucht. Am kraniozervikalen Bandapparat fanden sich kleine Läsionen. Diese Befunde können nach Ansicht der Autoren nicht einfach auf das HWS-Trauma zurückgeführt werden. Es wurden keine Belege gefunden, dass die Schäden des Bandapparats (Ligamenta alaria und Ligamentum transversum) ursächlich auf eine einfachen HWS-Distorsion zurückgeführt werden können. Knackstedt et al. publizierten 2012 im Journal of Headache and Pain eine Studie mit 47 Schleudertrauma-Patienten. Ihr Fazit: "Auffallende MRT-Befunde des kraniozervikalen Bandapparats erklären nicht die zervikogenen Kopfschmerzen nach Schleudertrauma". Auch für die häufig auftretenden kognitiven Defizite nach dem Unfall sind keine morphologischen Abweichungen verantwortlich zu machen.
Eine Schädigung zerebraler Strukturen ist weder begründbar noch nachweisbar. Weder wiederholte MRT-Untersuchungen noch die Positronen- und die Single-Photon-Emissionstomographie lieferten solche Nachweise. Patienten, die nach einer einfachen HWS-Distorsion über langanhaltende Beschwerden klagen, sollten aber dennoch nicht vorschnell als Simulanten eingestuft werden. Die Psychotraumatologie gibt hier ergänzende Ansätze. Es existiert nicht nur das, was man sieht.
"Kollege" in schwarzer Robe
Des Öfteren rät nicht ein Dr. med sondern ein Dr. jur zur Halskrause. Der Aspekt der Schmerzensgeldforderung nach einem Unfall wird optisch Nachdruck verliehen, wenn die Patienten vor Gericht mit einer sichtbaren Therapiehilfe auftreten.
Leitlinie: motiviert aktiviert
"Standard ist heute die möglichst frühzeitige aktivierende konservative Behandlung; eine langfristige Immobilisation oder eine übertrieben pessimistische Haltung ist, da prognostisch ungünstig, zu vermeiden". Zu so viel Zurückhaltung rät die aktuelle Leitlinie "Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule" der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
Der Unfallchirurg Prof Dr. Michael Schnabel schrieb im Jahr 2004 über 1.500 Kliniken in Deutschland an und befragte sie nach deren Behandlungsschemata beim Beschleunigungstrauma. 540 Kliniken haben die Fragebögen beantwortet zurückgeschickt, 516 machten Angaben zur Häufigkeit der "HWS-Distorsion". In diesen Kliniken wurden pro Jahr bei 84.000 Patienten mit akuter HWS-Distorsion behandelt. Bei knapp 86 Prozent der Patienten wurde eine Halskrawatte mit einer durchschnittlichen Tragedauer von fast sieben Tagen verschrieben. Fast 56 Prozent erhielten zugleich Physiotherapie, im Mittel 8,4 Anwendungen. Bei 30 Prozent war eine Halskrawatte für durchschnittlich knapp sechs Tage die einzige Therapie. 8,3 Prozent der Patienten bekamen allein Physiotherapie. Nur knapp sechs Prozent erhielten weder Krankengymnastik noch eine Halskrawatte.
In den Studien blieb ein Aspekt unberücksichtigt: die Erwartungshaltung des Patienten. Nicht selten ist er enttäuscht, wenn der Arzt außer Tipps und Diclo nicht noch ein sichtbares Zeichen des Traumas rezeptiert. Da sollte der Arzt halsstarrig bleiben.