Der plötzliche Kindstod versetzt noch immer Eltern in Angst. Auch wenn die Zahl der Fälle zurückgegangen ist, bleibt die Frage nach dem Warum. Mit der Zwerchfell- und Triple-Hypothese kann der Pathomechanismus scheinbar sinnvoll erklärt werden.
Der Satz: "Die Ursache für den plötzlichen Kindstod ist noch immer nicht gefunden" ist ein Paradoxon. Der plötzliche Kindstod oder Sudden infant death syndrome (SIDS) ist eine Ausschlussdiagnose. Nur, wenn alle bekannten Diagnosen ausgeschlossen werden können, bleiben als Rest Todesfälle bei Kindern im ersten Lebensjahr übrig, die als plötzlicher Kindstod bezeichnet werden. Wird eine Ursache ausgemacht, so ist das Kind nicht mehr am plötzlichen Kindstod "gestorben", sondern an Herzversagen, einer Infektion, oder oder oder.
Die "Diagnose" plötzlicher Kindstod bedeutet aber nicht, dass es für den Tod des Kindes keine Ursache gab – niemand stirbt ohne Grund. Vielmehr wurde die Ursache nicht gefunden. Das kann daran liegen, dass gar nicht erst obduziert wurde, dass bei einer Obduktion nicht alle Untersuchungen gemacht wurden oder weil bestimmte Ursachen, wie beispielsweise Herzrhythmusstörungen, nach dem Tod nicht mehr nachweisbar sind.
Bauchlage alleine reicht nicht aus
In Deutschland wird pro Jahr bei etwa 150 bis 200 Kindern vom plötzlichen Kindstod gesprochen. Doch woran sterben die Kinder denn nun eigentlich? Vor 25 Jahren waren es jährlich noch über 1000 Kinder, bei denen keine Todesursache festgestellt werden konnte. Bevor Anfang der 1970er Jahre die Empfehlung für die Bauchlage als optimale Schlafposition ausgesprochen wurde, lag die SIDS-Rate um die Hälfte darunter, wie Prof. Dr. Gerhard Jorch, Direktor der Universitätskinderklinik Magdeburg, in einer Untersuchung herausgefunden hat. Ist es also die Bauchlage, die die Kinder im Schlaf sterben lässt? "Die Bauchlage ist anerkannterweise mit Abstand der wichtigste Faktor, aber sicherlich nicht alleine. Denn von 250 Kindern, die ständig auf dem Bauch schlafen, stirbt nur eines", so Prof. Jorch.
Infektionen und weitere Faktoren
Die Triple-Hypothese liefert ein Modell, das ein multifaktorielles Geschehen annimmt. So besagt sie, dass der plötzliche Kindstod ein Zufallsereignis ist, für das mehrere Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Es muss eine Veranlagung bestehen (z.B. genetische Prädisposition, Herzrhythmusstörungen), die Lebensumstände müssen ungünstig sein (z.B. Bauchlage) und ein akutes Geschehen (z.B. Infektion) muss vorliegen. Besonders der Aspekt einer Infektion bietet eine mögliche sinnvolle Erklärung dafür, warum die meisten Todesfälle zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat auftreten.
"Vorher sind die Kinder durch die Antikörper der Mutter und eventuell durch Muttermilch geschützt. Der Nestschutz lässt etwa in diesem Zeitraum nach. Ebenso ist auffällig, dass nur sehr selten Säuglinge sterben, solange sie gestillt werden", erklärt Prof. Jorch weiter. Zudem könnten die motorischen Fähigkeiten der Kinder einen Einfluss haben. In den ersten Lebenswochen können sich die Neugeborenen noch nicht in gefährliche Lagen bewegen. Mit etwa drei Monaten beginnen sie dann, sich zu drehen oder im Bett umherzuschieben und können so in Situationen kommen, die für die Atmung ungünstig sind. Allerdings sind die motorischen Fähigkeiten noch nicht so weit fortgeschritten, dass sich das Kind auch wieder aus einer möglichen ungünstigen Lage befreien kann.
Es beginnt mit dem Abfall der Sauerstoffsättigung
Den Pathomechanismus stellen sich Experten derzeit folgendermaßen vor. Beim größten Teil der Kinder beginnt das Geschehen mit einem Abfall der Sauerstoffsättigung, während Atmung und Herzschlag noch regulär stattfinden. Durch die verringerte Sauerstoffsättigung werden die Kinder bewusstlos, dann steigt die Herzfrequenz erst an, wird dann langsamer und anschließend setzt die Atmung aus. Dieser Prozess dauert bis zu einer halben Stunde und wurde bei Kindern beobachtet, die an einen Überwachungsmonitor angeschlossen waren, deren Alarm jedoch nicht angeschlagen hat oder der überhört wurde. "Die Kinder ersticken so ohne Schmerzen oder Atemnot, darum schreien sie auch nicht", legt Prof. Jorch das Geschehen dar.
Genetisch bedingte Herzrhythmusstörungen
Zu dieser Vorstellung des Ablaufes passt auch die Zwerchfellhypothese, die darauf beruht, dass noch nicht vollständig entwickelte oder geschwächte Atemmuskulatur, nicht-letale Infektionen, Bauchlage und REM-Schlaf Ursachen für den plötzlichen Kindstod sind. Ein weiterer Einfluss scheinen genetisch bedingte Herzrhythmusstörungen zu sein. Dr. Wilders vom Department of Anatomy, Embryology and Physiology der Universität Amsterdam legt in einem Review-Artikel dar, dass molekulargenetische Auffälligkeiten, die mit Herzrhythmusstörungen in Zusammenhang stehen, unter SIDS-Opfern viel häufiger auftreten, als in der Gesamtbevölkerung.
Obwohl viele Gene mit Veränderungen an den Ionenkanälen des Herzens in Verbindung gebracht werden, scheint in den meisten Fällen das Gen SCN5A mutiert zu sein. SCN5A kodiert für eine Untereinheit eines Natrium-Kanals und wird vorwiegend im Herzmuskel exprimiert. Darüber, wie viele von den Opfern jedoch tatsächlich an den Folgen dieser Mutation gestorben sind, lässt sich jedoch nur spekulieren. Ebenso bleibt offen, warum Herzrhythmusstörungen gerade im Zeitraum der häufigsten Todesfälle, also zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat, ein größeres Risiko darstellen, als bei älteren Kindern.
Grundsätzlich problematisch bei der Ursachenforschung ist es, eine aussagekräftige Kontrollgruppe aus der Normalbevölkerung zu haben. "Im Prinzip kann man nur getötete oder verunfallte Kinder mit vergleichbaren Umgebungsdaten als Kontrolle verwenden, aber davon gibt es – Gott sei Dank – nur sehr wenige", stellt Prof. Jorch heraus.
Voraberkennen wäre wünschenswert
Schön wäre es, wenn man die Kinder mit erhöhtem Risiko im Vorfeld erkennen könnte. Das ist aber momentan noch nicht möglich, auch weil, wie erläutert, noch nicht klar ist, welcher Faktor welche Rolle spielt. Die Bauchlage könnte für viele Kinder unproblematisch sein, für einige ist sie aber das Zünglein an der Waage. Über epidemiologische Studien wurden bestimmte Verhaltensweisen als Risikofaktoren identifiziert und die bekannten Verhaltensempfehlungen ausgesprochen. Zu den Empfehlungen gehören neben der Rückenlage auch das Schlafen im Babyschlafsack in einem eigenen Bett im Schlafzimmer der Eltern, eine rauchfreie Umgebung, Zimmertemperatur von 18°C und Stillen im ersten Lebenshalbjahr.
Die Forschung der letzten Jahre versucht zu ergründen, warum sich manche Verhaltensweisen als protektiv erweisen, während andere das Risiko zu versterben erhöhen. Daraus hervorgegangen sind unter anderem die Hypothesen vom Zwerchfellversagen, von neurologischen Beeinträchtigungen und Veränderungen, von Veränderungen der Blutzufuhr zum Hirnstamm, Schäden durch Substanzen im Zigarettenrauch und viele weitere.
Mit neuem Gerät Atmungsaktivität überwachen
Dennoch bleibt den Eltern von Säuglingen fast nur die Hoffnung, dass es sie nicht treffen wird. Über Sensormatten im Bett können die Bewegungen des Kindes registriert werden und entsprechende Geräte geben Alarm, wenn sich das Kind nicht mehr bewegt. Auch wenn die Geräte inzwischen verbessert sind, treten gelegentlich Fehlalarme auf, die die Eltern in Angst und Schrecken versetzen. Eine neue Entwicklung kommt vom Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM in Berlin. Die Forscher haben einen Babybody entwickelt, auf den eine dehnbare, flexible Leiterplatte mit einem integrierten Sensorsystem aufgebügelt wird. So wird die Atmungsaktivität an Bauch und Rücken gemessen und schlägt Alarm, wenn die Atmung aussetzt. Das System soll durch den direkten Körperkontakt deutlich sensibler sein, als die Sensormatten im Bett es sein können.
Selbst wenn der plötzliche Kindstod inzwischen sehr selten geworden ist, so ist es doch die häufigste Diagnose für Todesfälle jenseits der Neugeborenenphase. Ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren scheint ausschlaggebend zu sein, dass es zum Tod eines Kindes kommen kann, auch wenn im Vorfeld und rückwirkend das Risiko nicht erkannt bzw. die Ursache nicht aufgeklärt werden kann.