Demenz – ein Alptraum für Betroffene und deren Familie: Zu Hause pflegen oder ein Heim suchen, das waren lange Zeit die einzigen Alternativen. Jetzt machen neue Modelle Schule, etwa spezielle Wohngemeinschaften oder eigene Stadtteilquartiere für Patienten.
Bereits heute pflegen Angehörige zehn Millionen Menschen zu Hause. Davon leiden 1,4 Millionen an Demenz verschiedener Ursachen. Experten rechnen mit einem rapiden Anstieg von Patienten mit kognitiven Defiziten, bis 2050 sollen drei Millionen betroffen sein. "Durch die demografische Entwicklung wird Pflege zu einer immer größeren Herausforderung für das soziale Sicherungssystem, für die Familien und alle, die sich um eine tragfähige Infrastruktur für die Sicherung einer kompetenten und zugleich menschlichen Pflege bemühen", sagt Professor Dr. Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach.
Zwischen Beruf und Betreuung
Momentan tragen vor allem Frauen die Last der häuslichen Pflege, heißt es in einer Studie des Instituts für Demoskopie im Auftrag der R+V Versicherungen. Im Schnitt berichten 53 Prozent der Befragten von drei Stunden und mehr für die Unterstützung im Haushalt und für Hilfe bei der Körperpflege. Zusätzlich sind 37 Prozent der Angehörigen berufstätig. Statistiker ermittelten, dass die Pflege bei 39 Prozent zwischen einem Jahr und drei Jahren dauert, während 23 Prozent ihre Angehörigen bis zu fünf Jahren unterstützen. Viele Familien scheuen sich allerdings, für nahestehende Menschen einen Platz in Alten- oder Pflegeheimen zu suchen – nicht ohne Grund.
Pannen beim Pflege-TÜV
Zwar kontrollieren Mitarbeiter des medizinischen Diensts der Krankenkassen seit nunmehr drei Jahren alle Einrichtungen und vergeben Pflegenoten. Ein Muster ohne Wert, sagen Kritiker. Beispielsweise haben Häuser die Möglichkeit, schlechte Leistungen im Pflegesektor durch Punkte in anderen Bereichen zu kompensieren. Kein Wunder, dass viele Einrichtungen mit besten Zensuren glänzen – nicht immer zu Recht, wie ein aktueller Fall aus Augsburg (Bayern) gezeigt hat. Trotz hervorragender Bewertung vom „Pflege-TÜV“ kümmerten sich zeitenweise zwei Pflegekräfte um bis zu 30 Demenzpatienten.
Jetzt hat es sich der GKV-Spitzenverband zur Aufgabe gemacht, einzugreifen. Vertreter der Kassen fordern, pflegerische Kernkriterien stärker zu bewerten und auch Stichproben bei Vor-Ort-Terminen neu zu definieren. Diskutiert werden zudem international anerkannte Qualitätsindikatoren, etwa die Häufigkeit von Stürzen oder die Ernährungssituation. Nicht jeder ist von diesen Ideen angetan. "Da die Pflegeanbieter bisher eine schnelle, verbraucherfreundliche Veränderung blockieren, bleibt uns im Moment nur der Weg über die Schiedsstelle", kritisiert Gernot Kiefer, Chef des GKV-Spitzenverbandes.
Willkommen in der WG
Momentan ist die Situation aber unbefriedigend. Angehörige suchen deshalb nach Alternativen wie beispielsweise Demenz-Wohngemeinschaften. Die Idee dahinter: Patienten, meist sechs bis acht an der Zahl, leben in einem sicheren Umfeld. Je nach Schwere ihrer Krankheit gestalten sie den Tagesablauf zusammen mit Leidensgenossen selbst. Sie haben ihr eigenes Reich, meist ein Zimmer. Daneben gibt es Gemeinschaftsräume, in denen gekocht, gespielt, musiziert oder gebastelt wird. Wer noch kann, geht zusammen mit Betreuern einkaufen oder macht kleine Spaziergänge. In vielen Demez-WGs spielen neben professionellen Pflegekräften und Haushaltshilfen Angehörige eine zentrale Rolle. Sie können jederzeit vorbeikommen und am Leben der Gemeinschaft teilnehmen. Viele Jüngere sind so zum festen Bestandteil des Soziallebens geworden, auch nach dem Tod ihrer Angehörigen. Besuchszeiten, feste Termine für Mahlzeiten oder für die Nachtruhe gibt es nicht. Um das Projekt finanziell tragfähig zu gestalten, sollten Bewohner zumindest Pflegestufe eins haben.
Das Dorf des Vergessens
Ärzte, Pflegekräfte und Städteplaner gingen nach dem Erfolg von Demenz-WGs noch einen Schritt weiter. Sie entwickelten ein spezielles Dorf für Demenzpatienten. Mehr als 150 Menschen leben mittlerweile im niederländischen De Hogeweyk. Die Verwaltung nennt sie Bewohner oder Klienten – aber niemals Patienten. "Das Erleben, ich bin krank, ich liege in einem Krankenhaus und es geht mir schlecht, will niemand. Darum versuchen wir, genau das zu vermeiden", sagt Yvonne van Amerongen, Managerin des Dorfs. Vielmehr legt sie großen Wert darauf, Menschen ihre Würde zu lassen und negative Gefühle durch positives Erleben zu ersetzen. Supermarkt, Konzertsaal, Fitness-Center oder Friseur sind nur einen Katzensprung weit entfernt. Von dem Konzept profitieren Demenzpatienten nachweislich.
MAKS macht mobil
Dass eine motorische, alltagspraktische, kognitive und spirituelle Aktivierungstherapie ("MAKS aktiv") helfen kann, lässt sich wissenschaftlich belegen. Nichtmedikamentöse Therapien nach diesem Konzept führten im Zeitraum von zwölf Monaten zu keiner weiteren Abnahme der alltagspraktischen und kognitiven Fähigkeiten, während sich bei Patienten einer Kontrollgruppe diese Parameter verschlechterten. Letztlich traten depressive Symptome oder aggressive Verhaltensweisen unter MAKS seltener auf. Das bestätigen auch Erfahrungen aus De Hogeweyk. Im Vergleich zu anderen Einrichtungen verzichten Ärzte und Pflegekräfte weitgehend auf sedierende Medikamente. Bewohner haben stattdessen die Sicherheit, dass jederzeit Hilfe zur Stelle ist. Vollzeitbetreuung, möglichst flexibel je nach den unterschiedlichen Bedürfnissen, dafür sind 240 Angestellte und 120 Ehrenamtliche zuständig. Finanziell gestaltet sich die Situation bei unseren Nachbarn jedoch einfacher: Pro Patient bekommt De Hogeweyk aus der niederländischen Pflegeversicherung knapp 5.000 Euro. Angehörige übernehmen nur Extras, etwa spezielle Hobbyangebote.
Eine Idee macht Schule
Vom Erfolg angetan, reifen in Deutschland ähnliche Pläne. In Alzey (Rheinland-Pfalz) könnte schon bald ein ähnliches Projekt für rund 120 Demenzpatienten entstehen. Bennewitz & Georgi, ein Beratungsunternehmen für Gesundheitsdienstleistungen, hat bereits konkrete Planungen zu einem 12.000 Quadratmeter großen Stadtquartier vorgelegt. Dennoch gibt es Unterschiede: Das niederländische Modell ist eine stationäre Einrichtung, Alzeys Dorf wird als Angebot zur ambulanten Versorgung konzipiert – eine Strategie der Landesregierung. Sozialministerin Malu Dreyer (SPD) stellt klar, es dürfe "kein weiteres stationäres Projekt unter dem Mäntelchen des ambulanten Angebots" entstehen. Neben konzeptionellen Fragen wird auch die Kalkulation zur Mammutaufgabe: Optimale Versorgung einerseits, bezahlbare Pflegesätze andererseits – so lautet die Devise.
Inklusion oder Ghettoisierung
Alzey bleibt kein Einzelfall. Ähnliche Projekte sind im schweizerischen Wiedlisbach vorgesehen. Ein bald freiwerdendes Areal der US-Streitkräfte nahe Heidelberg käme ebenfalls infrage, hierzu gibt es erste Überlegungen. Doch sind Lebenswelten für Demenzpatienten wirklich die Lösung? Kritiker bewerten entsprechende Projekte bestenfalls als Zwischenschritt zur Inklusion. Sie fordern eine direkte Versorgung demenzkranker Menschen in kleinen Gruppen vor Ort und warnen vor "Käseglocken".
Das Konzept von Bennewitz & Georgi will genau dieser Problematik Rechnung tragen. Eine gesellschaftliche Teilhabe könnte durch die Aufweichung von Grenzen zwischen Demenz-Dorf und Umgebung erreicht werden: Arztpraxen, Physiotherapeuten, Freizeitangebote, Cafés, eine Pension oder Einkaufsmöglichkeiten sind nicht nur für Patienten und deren Familien interessant. Andererseits lässt sich nicht jedes erfolgreiche Projekt zur Inklusion von Menschen mit Behinderung auf Demenzpatienten übertragen.