Das Wissen zum Morbus Alzheimer beruht überwiegend auf der Forschung zu den seltenen familiären Krankheits-Formen. Genomanalysen liefern nun Genvarianten bei der häufigen sporadischen Form - ein Hoffnungsschimmer für eine präzisere Diagnostik und neue Therapien.
Bei der Alzheimer-Krankheit werden prinzipiell zwei Formen unterschieden: die sehr seltene, genetisch determinierte oder familiäre Form und die nicht-familiäre oder sporadische Form, von der über 95 Prozent der Patienten mit Alzheimer-Demenz betroffen sind. Für die familiäre Form wurden relevante Mutationen von drei Genen beschrieben. Dabei handelt es sich um das Gen für das Amyloid-Vorläufer-Protein (APP) und die Gene Präsenilin 1 (PS1) und Präsenilin 2 (PS2).
Patienten mit Mutationen in einem dieser drei Gene erkranken fast alle -und meist ab dem 30. und vor dem 60. Lebensjahr. Darüber hinaus gibt es genetische Varianten, die mit einem erhöhten Risiko für die Alzheimer-Erkrankung einhergehen. Am bekanntesten ist eine Variante des Gens mit der Bauanleitung für das Apolipoprotein E (APOE). Von diesem Gen gibt es drei häufige Varianten: APO-e2, APO-e3 und APO-e4. Rund 15 Prozent der Bevölkerung sind Träger von APO-e4-Allelen. Bis zu zwei Drittel der Patienten mit klinisch diagnostiziertem Morbus Alzheimer sind APO-e4-positiv. Bei gesunden Menschen liegt der Anteil dagegen bei etwa zehn Prozent.
Nach einer aktuellen, gerade in den "Archives of Neurology" publizierten Studie ist APO-e4 allerdings nicht allein bei Alzheimer-Patienten nachweisbar, sondern auch bei Patienten mit anderen neurodegenerativen Erkrankungen, die mit einer Demenz einhergehen oder einhergehen können, etwa Morbus Parkinson und Lewy-Body-Demenz.
Alzheimer nicht gleich Alzheimer
Ein Großteil der Vorstellungen dazu, wie sich die Alzheimer-Erkrankung entwickelt, beruht nun auf Forschungsresultaten, die bei den seltenen, durch Genmutationen determinierten frühen Erkrankungsformen gewonnen wurden. Dies gilt insbesondere für das Konzept zur Amyloid-Pathogenese. Doch es sei unklar, wie groß die Übereinstimmung der Pathophysiologie zwischen dem Modell der seltenen Alzheimer-Formen und der sehr viel häufigeren, genetisch äußerst komplexen sporadischen Erkrankung sei, "die sich zur Zeit zu einer weltweit äußerst bedrohlichen Krankheitsepidemie entwickelt", erklären die Alzheimer-Forscher Professor Harald Hampel (Universität Frankfurt am Main) und sein Mitarbeiter Dr. Simone Lista ("Nature Reviews Neurology").
Darüber hinaus ist die nicht-familiäre Form der Alzheimer-Erkrankung wahrscheinlich auch keine homogene Erkrankung, denn Individuen sind nicht allein genetisch sehr unterschiedlich, sondern unterliegen auch während des Lebens vielfältigen Umwelteinflüssen, haben unterschiedliche Lebensweisen, die auf das Genom wirken. Es könne daher vermutet werden, dass es bei der sporadischen Alzheimer-Erkrankung mehrere genetische und biologische Subtypen gebe, erklären Hampel und Lista. Die Folge davon könnten zum einen differente Biomarker-Profile sein; zum anderen könnte daraus die Notwendigkeit abgeleitet werden, maßgeschneiderte oder auch individualisierte Therapie-Ansätze zu entwickeln - so wie in der Onkologie.
Selten, aber mächtig: neue Alzheimer Gen-Varianten
Vor diesem Hintergrund gewinnen die zunehmenden Erkenntnisse aus so genannten genom-weiten Assoziationsstudien zur sporadischen, also nicht-familiären Alzheimer-Erkrankung immer mehr an Bedeutung. Bereits 2011 konnte ein internationales Forscherteam mit Beteiligung auch deutscher Forscher wie Hampel, Jens Wiltfang (Essen) und Johannes Kornhuber (Ulm) fünf neue und "durchschlagskräftige" Risikovarianten identifizieren, die mit der Alzheimer Krankheit assoziiert sind ("Nature Genetics"). Aktuelle Studien mit dem Ziel, weniger häufige, aber dennoch äußerst wirksame Varianten zu entdecken, zeigen tatsächlich: Es gibt bei dieser Erkrankungsform nicht nur sehr seltene Gen-Varianten mit eher geringer Wirkung auf die Pathogenese, sondern gerade auch solche, die mit relativ großen "Effekten" einhergehen.
Ein Beispiel für eine solche seltene, aber "mächtige" Gen-Variante ist jene, die ein Team um Professor Kári Stefánsson, Chef des Unternehmens "Decode Genetics", entdeckt hat ("Nature"). Das Besondere an der Entdeckung des isländischen Genforschers: Es handelte sich um eine Punktmutation des Gens für das Amyloid-Vorläuferprotein (APP), die nicht mit einem erhöhten, sondern erniedrigten Risiko für die Alzheimer-Erkrankung einhergeht. Nach den Untersuchungen des Teams um Stefánsson haben Träger der Mutation nicht allein eine größere Chance, ein hohes Alter zu erreichen. Deutlich größer sind vor allem ihre Aussichten, 85 Jahre alt zu werden, ohne dass bei ihnen eine Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert wird. Allerdings ist diese Punktmutation äußerst selten: Die Untersuchung von 1795 Isländern ergab bei den Alzheimer-Kranken eine Rate von 0,13 Prozent; bei den älteren Menschen ohne Alzheimer-Krankheit waren es 0,62 Prozent.
Eine neues Alzheimer-Risiko-Gen
Erst vor wenigen Tagen haben dann zwei internationale Teams um Stefánsson, sowie Harald Hampel von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und um Professor John Hardy vom "University College of London" eine weitere seltene, aber ebenfalls "mächtige" Gen-Variante entdeckt, die jedoch mit einem erhöhten Risiko für die Alzheimer-Erkrankung verknüpft ist. Beide Arbeiten sind zeitgleich im "New England Journal of Medicine" erschienen.
Bei der neuen Variante handelt es sich um eine Mutation in jenem Gen, das die Bauanleitung für einen speziellen Zell-Rezeptor (TREM2) enthält. Im Gehirn findet sich der Rezeptor vor allem auf Mikroglia-Zellen, die, wenn sie aktiviert sind, an der Phagozytose von Zellabfall und auch Amyloid beteiligt sind. Mikrogliazellen können auch die Produktion proinflammatorischer Zytokine (etwa Tumor-Nekrose-Faktor) fördern oder sich zu Antigen-präsentierenden Zellen entwickeln, also möglicherweise eine Immunreaktion auslösen. Auch diese Genvariante beruht auf einer Punktmutation. Da der physiologische Rezeptor TREM2 an der Phagozytose - unter anderem von Bakterien und toxischen Amyloid-Plaques - beteiligt ist, kann es sein, dass der defekte Rezeptor einen gestörten Abtransport solcher neurotoxischer Produkte zur Folge hat.
Das eine Team um Hampel und Stefánsson hat das Genom einer genetisch relativ homogenen Population von 2261 Isländern untersucht und zudem - zum Vergleich Populationen aus den USA, Norwegen, den Niederlanden und Deutschland, das andere Team um Professor John Hardy eine genetisch wahrscheinlich weniger homogene Population aus knapp 1000 Alzheimer-Kranken und 1004 gesunden freiwilligen Personen. Darüber hinaus untersuchten Hardy und seine Mitarbeiter Hirngewebe von gestorbenen Alzheimer-Kranken und die Expression des TREM2-Gens bei genetisch modifizierten Mäusen.
Auch die TREM2-Mutation ist extrem selten. Knapp zwei Prozent der von Hardy und seinen Kollegen untersuchten Alzheimer-Patienten trugen die Veränderung in ihrem Erbgut. Unter den Gesunden waren es nicht einmal 0,4 Prozent. In der isländischen Studien-Population waren 0,63 Prozent der untersuchten Personen Träger des Risiko-Allels; doch Träger dieses Allels haben, wie der Vergleich mit mindestens 85-jährigen Nicht-Trägern ergab, ein fast dreifach erhöhtes Alzheimer-Risiko. Diese Risiko-Zunahme entspricht in etwa jener, die mit dem als Risikofaktor bekannten ApoE-e4-Allel verbunden ist (Faktor 3,08). Dessen Häufigkeit in der isländischen Population ist mit rund 17 Prozent jedoch deutlich größer. Weitere Berechnungen lieferten zudem Hinweise darauf, dass Personen mit der neuen Genvariante früher an Alzheimer erkranken als Nicht-Träger. Außerdem hätten die Analysen gezeigt, dass die kognitive Leistungsfähigkeit von 80 bis 100 Jahre alten Trägern des Allels schlechter sei als die von gleichaltrigen Nicht-Trägern, berichten die Autoren.
Der aktuelle Befund der beiden Teams stützt eine Vielzahl früherer Studienresultate, nach denen entzündliche und immunologische Prozesse eine wesentliche Rolle in der Pathogenese der Alzheimer-Erkrankung spielen. Die Arbeiten zeigten - in Übereinstimmung mit anderen Studiendaten - dass es sicher sinnvoll sei, sowohl bei der Suche nach weiteren diagnostischen Indikatoren, also Biomarkern, als auch neuer Alzheimer-Therapien entzündliche Vorgänge im Gehirn zu berücksichtigen, so Harald Hampel. Dass entzündliche bzw. immunologische Prozesse eine wesentliche Rolle in der Alzheimer-Entstehung spielen, haben er und seine Kollegen bereits 2011 in dem schon zitierten "Nature Genetics" -Aufsatz berichtet.
In ihrer Analyse des Genoms von fast 60 000 Personen (knapp 20 000 Alzheimer-Patienten) fanden die Forscher fünf Risiko-Gene (ABCA7, MS4A, EPHA1, CD33, CD2AP), deren Eiweiß-Produkte unter anderem beteiligt sind an zellulären Transportprozessen, an der Regulation von Entzündungs- und immunologischen Vorgängen und auch am Fettstoffwechsel. Die aktuellen Genomanalysen seien, so erklärt der Alzheimer-Forscher, "sozusagen die konsequente Fortsetzung der früheren Genom-Analysen - mit dem mittelfristigen Ziel, das gesamte hochkomplexe genetische Profil der Alzheimer Erkrankung zu beschreiben".
Und die Konsequenzen?
Eine mögliche Konsequenz aus diesen Forschungbefunden ist, dass verstärkt nicht allein Therapien entwickelt werden sollten, die gegen das Beta-Amyloid oder gegen Tau-Fibrillen gerichtet sind; möglicherweise ist es notwendig "zwei- oder gar mehrgleisig" zu fahren, um es etwas salopp zu formulieren. Nach wirksamen antientzündlichen Strategien etwa wird bereits seit geraumer Zeit gesucht; klinische Studien mit entzündungshemmenden Wirkstoffen, zum Beispiel NSAR und Statine, sind allerdings enttäuschend verlaufen (Agnes Flöel (Hrsg.): Alzheimer – unabwendbares Schicksal? Schattauer-Verlag, Stuttgart 2012). Ob ein bereits verfügbares Immunglobulin-Präparat zu dem dieses Jahr beim Kongress der "Alzheimer‘s Association" in Vancouver Daten einer 24-Patienten-Studie vorgestellt wurden, erfüllt, was erhofft wird, ist ungewiss.
Dies gilt auch für einen Ansatz, über den vor wenigen Tagen Forscher der Charité und der Universität Zürich in "Nature Medicine" berichtet haben. Die Teams um die Professoren Frank Heppner (Abteilung für Neuropathologie der Charité) und Burkhard Becher (Abteilung für experimentelle Immunologie der Universität Zürich) haben zeigen können, dass mit Antikörpern gegen ein Molekül (p40) der von Mikroglia produzierten Zytokine Interleukin 12 und 23 die Plaque-Akkumulation im Maus-Modell der Alzheimer-Krankheit reduziert wird.
Weitere Untersuchungen ergaben, dass diese Antikörper-Therapie gegen die Zytokine kognitive Defizite bereits an Alzheimer erkrankter Tiere linderte. Heppner und Becher vermuten nicht, dass die Zytokine Interleukin 12 und 23 eine ursächliche Rolle in der Pathogenese der Erkrankung spielen. Es ist allerdings gesichert, dass Beta-Amyloid inflammatorische Prozesse induziert. Und obgleich die Bedeutung des Moleküls p40 noch weiter geklärt werden müsse, ist es nach Angaben der Forscher jetzt berechtigt, den Ansatz in Human-Studien zu erproben.
Kein Grund für persönliche Genom-Analyse
Klar ist: Es gibt keinen Grund, jetzt das eigene Genom sequenzieren zu lassen, um zu erfahren, ob man ein erhöhtes oder vielleicht erniedrigtes Alzheimer-Risiko hat. Denn was sollte oder könnte ein gesunder Mensch derzeit mit der Information anfangen, das persönliche Risiko sei um ein paar Prozent erhöht oder erniedrigt? Es gibt bislang keine wirklich wirksame und allgemein anerkannte Therapie oder Prävention, mit der dieses Risiko reduziert werden könnte. Und ein erniedrigtes Risiko sollte keine Art Freibrief dafür sein, einen Demenz fördernden und zugleich das Herz gefährdende Lebensstil zu pflegen, also weder physisch aktiv zu sein noch sich halbwegs gesund zu ernähren, damit Blutdruck, Gewicht und Stoffwechsel im Lot bleiben.
Und Fakt ist auch: Die aktuellen Ergebnisse der Genomanalysen stützen die Auffassung, dass die sporadische Alzheimer-Erkrankung eine genetisch hochkomplexe Erkrankung mit mehreren Subtypen ist ("Nature Reviews Neurology"). Bis alle Facetten erkannt sind, wird die "Jagd" nach weiteren Genvarianten noch einige Zeit weitergehen müssen. Immerhin hat sie längst begonnen, - und ihre Rasanz ist enorm.