Was hat ein Ionenkanal mit MS zu tun? Und könnte man MS tatsächlich mit einem Diabetes-Medikament heilen? Diese Fragen klärte die DocCheck-Redaktion mit Dr. Manuel Friese, der gerade einen neuen Behandlungsansatz für MS-Patienten veröffentlichte.
Multiple Sklerose (MS) zählt zu den Autoimmunerkrankungen. Dabei erkennt das Immunsystem bestimmte Oberflächenproteine auf Nervenzellen und ihren Fortsätzen nicht mehr als körpereigen und greift diese daher irrtümlich an. Es kommt zu einer chronischen Entzündung. Das Krankheitsbild kann sich von Patient zu Patient stark unterscheiden. Einen Befund haben jedoch alle MS-Patienten gemeinsam: Das Immunsystem zerstört die Oligodendrozyten im Gehirn. Diese bilden eine Isolierschicht um die Fortsätze der Nervenzellen, die für eine effiziente Reizleitung notwendig ist. Im Laufe der Erkrankung verlieren MS-Patienten fortschreitend die Kontrolle über ihre Muskeln. MS ist bisher nicht heilbar.
Doch der Studienleiter Dr. Manuel Friese vom Zentrum für Molekulare Neurobiologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf beschrieb nun in Nature Medicine einen Ionenkanal und die Blockade desselben, die im Tierversuch das Absterben von Nervenzellen verhindern konnte. Seine Arbeit könnte die Erforschung und Behandlungsansätze von MS in Zukunft verändern.
Ionenkanal und MS?
Ein Ionenkanal soll maßgeblich an der Pathophysiologie von MS beteiligt sein? Was bisher noch nie in dieser Weise postuliert wurde, scheint nach Dr. Frieses Erklärung logisch: "Man weiß, dass beim Absterben von Nervenzellen bei chronischen Entzündungen meist eine Energieknappheit (ein ATP-Mangel) im Zellinneren vorliegt. Außerdem strömen bei diesem Prozess Ionen (Calcium und Natrium) kontinuierlich in die Zelle ein. Die Zelle versucht, die erhöhte Ionenkonzentration durch Aufnahme von Wasser auszugleichen. Sie schwillt an und stirbt ab." Diese Tatsachen lenkten Dr. Frieses Aufmerksamkeit und die seiner Kollegen auf Ionenkanäle, die möglicherweise am Einstrom von Natrium und/oder Calcium beteiligt sein könnten. "Wir haben systematisch verschiedene Ionenkanäle auf ihre Beteiligung am Absterbeprozess von Nervenzellen hin überprüft", erklärt er. Beim Ionenkanal TRPM4 (transient receptor potential melastatin 4) wurden sie fündig. Seine Aktivität hängt sowohl von der ATP-, als auch von Calcium-Konzentration in der Zelle ab. Über seine physiologische Bedeutung im Nervensystem ist bisher jedoch nur wenig bekannt.
Ein Diabetes-Medikament und MS?
Aus der Grundlagenforschung war jedoch bekannt, dass der bereits zur Behandlung von Diabetes zugelassene Wirkstoff Glibenclamid den Ionenkanal TRPM4 blockiert. Glibenclamid soll bei Diabetes-Patienten eigentlich den Sulfonylharnstoffrezeptor 1 hemmen. "Dieser Rezeptor ist wichtig für die Insulinsezernierung", erklärt Dr. Friese. Dass Glibenclamid auch noch den TRPM4-Ionenkanal hemmt, ist ein sog. Off-Target-Effekt, also eigentlich gar nicht der ursprünglich gewünschte Angriffspunkt des Medikaments. Mit Glibenclamid wollten Dr. Friese und seine Kollegen zeigen, dass es prinzipiell möglich ist, diesen Ionenkanal zu hemmen. Denn der von ihnen gewünschte Effekt trat durch die medikamentöse Hemmung von TRPM4 ein: Die Nervenzellen starben weniger ab, obwohl die Entzündungen noch vorhanden waren. "Unsere Intention war es nicht, mit einem Diabetes-Medikament MS heilen zu wollen, wie es vielfach in der Presse angepriesen wird", so Friese.
Es ging den Forschern um den "Proof of Concept". "Wenn man diesen Ionenkanal hemmt, hat das offenbar neuroprotektive Auswirkungen. Nun müsste ein spezifischer TRPM4-Inhibitor gefunden werden", fasst Dr. Friese zusammen. Doch muss das wirklich sein? Die viel versprechenden Ergebnisse bei Frieses Mäusen lassen die Hoffnung aufkommen, dass eigentlich alles ganz einfach sein könnte: MS-Patienten nehmen das gut erforschte Diabetes-Medikament Glibenclamid ein und könnten so das kontinuierliche Absterben ihrer Nervenzellen verhindern. "Viele Dinge sind noch unklar", wirkt Dr. Friese den euphorischen Gedanken entgegen. Man wisse beispielsweise nicht, ob der Wirkstoff die Blut-Hirnschranke in ausreichendem Maße überwinden könne, wie es bei den Mäusen der Fall war, und ob die Konzentration des Wirkstoffs im menschlichen Körper überhaupt ausreicht, um den Ionenkanal zu hemmen. "Momentan würde ich keinem MS-Patienten raten, Glibenclamid einzunehmen, denn es besteht auch das Risiko, eine Hypoglykämie zu erleiden", so Dr. Friese.
Physiologische Auswirkungen der TRPM4-Blockade
TRPM4 wurde bisher nicht nur in Nervenzellen, sondern auch in Herzgewebe, in Arterien, im Gastrointestinaltrakt und in Zellen des Immunsystems nachgewiesen. Das wirft die Frage auf, ob ein Ausschalten des Ionenkanals zu unerwünschten Nebenwirkungen führen würde. Zumindest bei den Mäusen, die durch genetische Blockaden oder durch das Medikament Glibenclamid keine funktionsfähigen TRPM4-Ionenkanäle beherbergten, war dies jedoch nicht der Fall. "TRPM4-Knockout-Tiere haben lediglich einen leicht erhöhten Blutdruck", berichtet Dr. Friese. Wenn das bei MS-Patienten auch der Fall wäre, könnte man diese relativ einfach zu behandelnde Nebenwirkung leicht in Kauf nehmen, mutmaßt er. Aber das wisse man eben noch nicht.
Der TRPM4-Ionenkanal scheint jedenfalls ein vielversprechender Ansatzpunkt für neue MS-Medikamente zu sein. Und nicht nur das: Der Ionenkanal könnte auch in der Pathogenese anderer fortschreitender Erkrankungen des Nervensystems wie Parkinson, Alzheimer oder der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) beteiligt sein, vermuten Dr. Friese und sein Team. Die Arbeitsgruppe um Dr. Friese prüft momentan eine mögliche Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie, um einen selektiven TRPM4-Inhibitor zu finden.