Mit fünf Jahren eingeschult, unter den Jahrgangsbesten im Abi, ab zum Medizinstudium. Klingt nach einer nahtlosen Karriere, stellt aber Hochschulen und Studenten vor neue Herausforderungen: Die so genannten Babystudenten drängen an die Unis. Dort erwartet sie häufig eine Vollmacht anstelle der Freiheit.
Denn mit dem Abitur nach acht Jahren Gymnasium und der abgeschafften Wehrpflicht sind viele Absolventen am Ende der schulischen Laufbahn nicht mehr unbedingt volljährig – sofern zwischen Schule und Uni keine freiwilligen Pausen eingelegt wurden. Bis 2016 wollen alle Bundesländer ihre höheren Bildungswege auf das System "G8" – Gymnasium in acht Jahren – umgestellt haben. In den meisten Ländern ist das schon geschehen und hat zu einer nie erlebten Studentenschwemme an deutschen Unis geführt: fast eine Million Studenten schrieben sich 2011 und 2012 bundesweit neu ein. Auch für medizinische Fakultäten und Studiengänge im Gesundheitsbereich wurde der Andrang im Jahr 2012 spürbar, die Unis schafften neue Studienplätze und drängten immer mehr Studenten in die immer gleichen Hörsäle.
Doch wo das Angebot knapp ist und die Nachfrage steigt, da wird über Verteilung und Gerechtigkeit diskutiert. Immer häufiger geht es dabei um minderjährige Studenten und die Frage: Dürfen die das? Eine von ihnen ist Sandra*, die in Münster studiert und im ersten Semesters volljährig wurde. "Es war schon merkwürdig, mit Leuten ein Studium zu beginnen, die zehn Jahre älter sind", sagt sie und meint damit Kommilitonen, die für den Studienplatz fleißig Wartesemester gesammelt haben.
Ein Hauch von Klassenzimmer
Ein Kommilitone, der es über die Wartezeit ins Studium geschafft hat, hegt den Minderjährigen gegenüber andere Bedenken: "Ich frage mich, wo die Lebenserfahrung herkommen soll, die als Arzt wichtig ist. Das Studium ist selbst so verschult und kopflastig, dass wenig Zeit bleibt, um nach rechts und links zu gucken. Solche Leute können doch nicht alle reine Diagnostiker werden."
Eine andere Studentin unterstreicht die Aussage: "Ich habe schon gesehen, wie sich Leute in Vorlesungen gemeldet haben, weil sie einen Text nicht gelesen hatten oder auf die Toilette gehen wollten. Es kommt ein Hauch von Klassenzimmer in die Uni zurück." Die jetzt volljährige Sandra sieht solche Argumente gelassener. "Inzwischen führen viele Unis Auswahlgespräche. Und da spielt doch bei der Bewertung die geistige Reife eine entscheidende Rolle. Wer es dort schafft, kann nicht ganz am Leben vorbeilaufen." Außerdem gebe es mit Sicherheit genauso unreife 22-jährige wie reife 17-jährige. Sandra macht den Eindruck, als würde sie sich und andere nicht zum ersten Mal verteidigen.
Sensible Themen als Herausforderung
Die meisten medizinischen Fakultäten legen ihren Jungstudenten nach der Einschreibung keine Steine mehr in den Weg. An vielen Hochschulen müssen die Eltern eine einmalige Erklärung unterschreiben, die wie eine Generalvollmacht wirkt. Danach ist der minderjährige Nachwuchs für die Uni praktisch volljährig. In München beispielsweise herrscht darin eine gewisse Routine. Im Wintersemester 2012/2013 seien 23 Medizinstudenten jünger als 18 Jahre, solche Jahrgänge habe es allerdings auch schon vor den doppelten Abitur-Jahrgängen gegeben, berichtet die Pressestelle der Ludwig-Maximilian-Universität. Der Studiendekan der medizinischen Fakultät kann sich jedenfalls nicht an Probleme im Zusammenhang mit minderjährigen Studienanfängern erinnern.
Freunde findet man trotzdem
In Münster, wo Sandra mit 17 Jahren zu studieren begann, heißt es aus dem Dekanat, sensible Themen wie Tod und Sterben seien für alle Altersgruppen herausfordernd. Die Altersgrenze für Studienanfänger richtet sich darum auch an der Westfälischen Wilhelms-Universität nicht nach einem Paragraphen im Bürgerlichen Gesetzbuch, sondern danach, welche Bewerber die Schulsysteme produzieren. Problematisch bleiben die Semester als "Babystudent" dennoch. Ein Knackpunkt ist die "Geschäftsfähigkeit". Minderjährige dürfen keine Unterschriften ohne entsprechende Vollmacht der Eltern leisten. Und das heißt: Bibliotheksausweis, Mietvertrag, Internetvertrag und Studienkredit sind ohne die Genehmigung von Mama und Papa tabu. Im Falle des Studienkredits muss zum Schutz des Kindes sogar ein richterlicher Beschluss her.
Schwierig wird auch die Wohnsituation. Minderjährige bevorzugen Wohnheime als erste Bleibe, wohl deshalb, weil Wohnraum dort für Ersties einfacher zu bekommen ist, als auf dem WG-Markt, wo es Absagen hagelt. Das zumindest hat das Deutsche Studentenwerk beobachtet. Nervige Extras erwarten die jungen Kommilitonen auch in der Freizeitgestaltung. Um 24 Uhr ist die Erstie-Woche offiziell vorbei. "Es war unentspannt, sich bei solchen Veranstaltungen immer am Rande der Illegalität zu bewegen", sagt Sandra im Rückblick. Anschluss zu finden war für sie dagegen kein Problem. "Studium verbindet, irgendwo ergeben sich Schnittstellen. Außerdem sind Schulabsolventen in anderen Ländern auch unter 18. Und in Amerika gibt's Bier erst mit 21. Freunde findet man da trotzdem."
Freiheiten über Bord werfen
Viele Fragen zur Debatte, die sich vor allem in Internetforen und auf den Hochschulseiten großer Tageszeitungen abspielt, warten auf eine gesetzliche Lösung. Ist es Eltern zuzumuten, zur Einschreibung quer durch Deutschland zu reisen? Müssen sie wirklich für jeden Vertrag Vollmächte ausstellen? Und ist es den Studenten zuzumuten, sich ständig unter die elterliche Kontrolle zu begeben und damit viele Freiheiten über Bord zu werfen? Einige Bundesländer, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, denken darüber nach, in solchen Fällen größere gesetzliche Freiheiten und ein gehöriges Maß an Eigenverantwortung einzuräumen. Denkbar wäre eine Regelung, vergleichbar mit der für Auszubildende unter 18 Jahren. Die dürften dann zwar immer noch nicht nachts in Kneipen sitzen, immerhin aber Kleinkredite aufnehmen und sich in solchen Kernfragen von den Eltern absetzen.
"Man sollte nicht vergessen: Bei den meisten geht es in der ganzen Diskussion um ein paar Monate und einen Paragrafen", sagt Sandra. "Es wäre ja ungerecht, Minderjährigen nach der Schule das Leben schwer zu machen, wenn in der Bildungspolitik alles dafür getan wird, dass Abiturienten immer jünger werden." Ob die Verjüngungskur in den Hörsälen neue Probleme mit sich bringt, werden die nächsten Jahre zeigen. Die Studentenwerke sorgen anscheinend schon mal vor.
*Der Name der Interviewten wurde, auf deren Wunsch, geändert.