Das Schmerzmittel Tilidin wird in Tropfenform von zahlreichen Jugendlichen als Droge missbraucht. Ab Januar 2013 soll es in dieser Form unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Ob das den Missbrauch reduzieren wird?
Der Amokläufer, der bei der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofes im Jahr 2006 wahllos auf 38 Menschen mit einem Messer einstach, soll es genommen haben. Tilidin – ein Schmerzmittel, das immer wieder als Droge missbraucht wird. "Tilidin wirkt nicht nur schmerzstillend, sondern auch enthemmend im Sinne reduzierter Verhaltensregulation", so Dr. Sebastian Ivens, Arzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin. "Tilidin kann so bei emotionaler Erregung eine Eskalation aggressiven Verhaltens begünstigen – ähnlich wie Alkohol", erklärt er.
Opioid für starke Schmerzen
Tilidin ist ein Schmerzstiller aus der Gruppe der Opioide, der zur Behandlung starker und sehr starker Schmerzen, etwa bei Krebspatienten oder nach schweren Operationen, eingesetzt wird. Seine analgetische Potenz, ein Maß für die Wirksamkeit der schmerzstillenden Wirkung, liegt bei 0,1 bis 0,2 im Vergleich zur Referenzsubstanz Morphin. Tilidin ist ein Prodrug, hat selbst kaum eine analgetische Wirkung und wird erst in der Leber zu den aktiven Metaboliten Nortilidin und Bisnortilidin verstoffwechselt. Von diesen ist hauptsächlich Nortilidin für die schmerzstillende Wirkung verantwortlich. Ein Schmerzpatient nimmt etwa 30 bis 40 Tropfen Tilidin als Einzeldosis ein. Abhängige Jugendliche 80 bis 100 Milliliter.
"Unter hohen Tillidin-Dosen kommt es zu einer stark verminderten Schmerzwahrnehmung; es kann zu einer Fehleinschätzung eigener Fähigkeiten und Grenzen kommen", so Dr. Ivens. Wer sich mit Tilidin Mut antrinke, sei kaltblütig und schmerzfrei genug, andere Jugendliche abzuziehen, eine Schlägerei zu gewinnen oder eine Tankstelle auszurauben, berichtete der Spiegel über Tilidin-Konsumenten im Jahr 2008.
Überdosierung lebensgefährlich
Dass Tilidin aggressiv macht, kann Jürgen Schaffranek, Sozialarbeiter beim Berliner Verein Gangway e.V., nicht bestätigen. "Die jugendlichen Tilidin-Konsumenten, mit denen ich zusammenarbeite, berichten ausnahmslos von euphorischen Gefühlen." Während der Wirkungshochs könnten seine Klienten die ganze Welt umarmen, so Schaffranek. Erst wenn die Wirkung des Tilidins nachlasse, komme es zu übersteigerter Gereiztheit und Aggressivität. Doch nicht nur ihr Umfeld leidet unter den Folgen des Tilidin-Missbrauchs, auch die Konsumenten selbst. "Nach hochdosierten Einnahmen kann es zu einer potentiell tödlichen Atemdepression kommen. Tilidin kann Übelkeit und Erbrechen auslösen, was im Schlaf leicht zum Erstickungstod führen kann. Diese Risiken sind unter der häufigen Mischintoxikation mit Alkohol noch deutlich erhöht", schildert Dr. Ivens.
Längst keine Migrantendroge mehr
Noch vor einigen Jahren berichteten die Medien, dass Tilidin fast ausschließlich von jungen muslimischen Migranten missbraucht würde. Drogen sind unter Muslimen verpönt und verboten. Tilidin sahen viele aber als Medikament an, nicht als Droge. Der Missbrauch von Tilidin scheint sich heute bei weitem nicht mehr nur auf muslimische Migranten zu beschränken. "Wir verzeichnen eine ethnische und kulturelle Egalisierung bei den Tilidin-Konsumenten", berichtet Jürgen Schaffranek. "Seit etwa anderthalb Jahren beobachten wir eine deutliche Zunahme des Tilidin-Missbrauchs", so Jürgen Schaffranek. Auch die Suchtberatungsstellen hätten einen Anstieg des Tilidin-Konsums unter Jugendlichen verzeichnet. Ein besonderer Anstieg hinsichtlich Rezeptfälschungen oder sonstigen Auffälligkeiten im Zusammenhang mit Tilidin sei derzeit nicht zu beobachten, äußerte sich hingegen die Sprecherin des Verbandes der Ersatzkassen e.V. (vdek), Michaela Gottfried.
Leichter zu beschaffen als andere harte Drogen
Im Vergleich zu anderen Drogen ist Tilidin relativ straffrei zu beschaffen. Man bekommt es in jeder Apotheke, allerdings nur mit einem gefälschten Rezept. "Bei einer Rezeptfälschung kommen die Täter relativ glimpflich davon – anders als beim Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz", erläutert Schaffranek. Auch auf dem Schwarzmarkt sei Tilidin zu bekommen – oft aus Importen aus dem Ausland.
Abhängigkeitsverlauf wie bei Heroin
Der Abhängigkeitsverlauf gleiche etwa dem von Heroin, erklärt der Sozialarbeiter. "Die ersten beiden Jahre läuft für die Abhängigen meistens alles ganz gut. Ihre Probleme treten durch das Medikament in den Hintergrund. Dann kommt es häufig zu einem enormen Gewichtsverlust. Auch die euphorischen Gefühle lassen spätestens zu diesem Zeitpunkt stark nach. Die Konsumenten brauchen dann Tilidin, um den Entzug nicht zu spüren. Viele erleiden Depressionen, Unruhe, Schlaflosigkeit und Krampfanfälle", so Schaffraneks Erfahrungen.
Naloxon sollte Suchtgefahr verhindern
Der Wirkstoff Tilidin war schon immer den betäubungsmittelrechtlichen Regelungen unterstellt, also auch in Anlage III zum Betäubungsmittelgesetz (BtMG) aufgeführt. Um Tilidin aber besser für die Therapie verfügbar zu machen, wurden so genannte 'ausgenommene Zubereitungen' formuliert. Diese Zubereitungen unterstanden bezüglich der Verschreibung nicht den betäubungsmittelrechtlichen Regelungen. Es handelte sich um Fertigarzneimittel, die aus einer Kombination von Tilidin mit Naloxon bestanden. Naloxon hebt insbesondere nach intravenöser Gabe – jedoch nach oraler Gabe in therapeutischen Dosierungen vernachlässigbar – die Wirkung des Tilidins auf. Durch das Hinzufügen von Naloxon war sichergestellt, dass diese Arzneimittel für den intravenösen Missbrauch ungeeignet waren. Denn Naloxon hätte bei intravenöser Verabreichung zu schweren Entzugserscheinungen geführt.
Tropfen vs. Ratard-Präparate
In den vergangenen Jahren habe es jedoch immer wieder Hinweise auf einen verstärkten Missbrauch von Tilidin/Naloxon-Tropfen gegeben, sodass die Problematik von einer Expertengruppe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) neu bewertet wurde. "Diese Vermutung des Missbrauchs von Tropfen wird durch die Tatsache gestützt, dass sich aufgedeckte Rezeptfälschungen weitestgehend auf Tilidin/Naloxon-Tropfen beziehen und ein ungewöhnlich hoher Anteil von Tropfen auf Privatrezepten verschrieben wird", erklärt Michaela Gottfried. Zur Verhinderung von Missbrauch und Abhängigkeit hält die Arbeitsgruppe des BfArM die "vollständige Unterstellung der schnell freisetzenden Darreichungsformen der fixen Kombination aus Tilidin und Naloxon unter die betäubungsmittelrechtlichen Regelungen für gerechtfertigt und begründbar". Eine Unterstellung der Darreichungsformen mit verzögerter Freisetzung (Retard-Präparate) ist aber aus Sicht der Arbeitsgruppe wissenschaftlich nicht begründbar.
Widerstand der Pharmaindustrie
"Tilidin wird insbesondere in Tropfenform als Droge missbraucht, da die Konsumenten nur so den euphorischen Kick spüren, den sie suchen", weiß auch Jürgen Schaffranek. Die braunen Fläschchen der Tilidintropfen könnten außerdem gut als beispielsweise harmlose Magentropfen getarnt werden oder in Getränkeflaschen umgefüllt und so unauffällig oder heimlich konsumiert werden. Jürgen Schaffranek ist sich sicher, dass Tilidin augenblicklich aus der Szene verschwinden würde, wenn es ausschließlich als Retard-Tabletten dargereicht werden würde. "Aber damit wird die Pharmaindustrie nicht einverstanden sein", vermutet er.
Betäubungsmittelrezept als Lösung?
Das BfArM sucht einen anderen Weg aus der Misere: Mit der 26. Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung (26. BtMÄndV) vom 20. Juli 2012 werden die Anlagen des Betäubungsmittelgesetzes und die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) an den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse unter anderem zu Tilidin-haltigen Fertigarzneimitteln angepasst: Tilidin-haltige Arzneimittel mit schneller Wirkstofffreisetzung werden durch Anpassung der Ausnahmeregelung für Tilidin in Anlage III mit Wirkung vom 1. Januar 2013 den betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften unterstellt, das heißt, eine Verschreibung von flüssigen Tilidin-haltigen Fertigarzneimitteln ist ab Januar 2013 nur noch auf einem BtM-Rezept möglich. BtM-Rezepte sind farblich markiert und müssen vom Arzt durch die Arztnummer und die Betriebsstättennummer der Praxis vervollständigt werden. Sie sind daher schwieriger zu fälschen als GKV-Rezepte.
Bislang galt für die fixe Kombination von Tilidin mit Naloxon eine Ausnahmeregelung, so dass diese Kombination auf einem "normalen" GKV-Rezept verordnet werden konnte. Für feste orale Darreichungsformen (z.B. Tabletten, Retardtabletten) gilt diese Ausnahmeregelung weiterhin. Jürgen Schaffranek verspricht sich dadurch keine Verbesserungen für die Abhängigen – im Gegenteil: "Durch diesen Beschluss werden nur mehr Abhängige zu Kriminellen werden."