Wie konnte ein für manche Affenarten harmloses RNA-Virus zur größten medizinischen Katastrophe der Gegenwart werden? Anlässlich des Welt-AIDS-Tags am 1. Dezember sprach DocCheck mit Professor Dr. Frank Kirchhoff vom Institut für Molekulare Virologie der Universität Ulm.
DocCheck: Die Entdeckung von HIV ist mittlerweile über 30 Jahre her. Trotzdem haben die Forscher erst in den letzten Jahren wirklich verstanden, wo HIV herkommt. Warum hat das so lange gedauert? Professor Dr. Frank Kirchhoff*: Da gibt es eine Reihe von Gründen. Zum einen hat man sich natürlich mit gutem Grund bei der Forschungsförderung vor allem auf HIV 1, den Haupterreger von AIDS, konzentriert. Mittel für die Erforschung von Affenimmundefizienzviren und der Evolution von HIV zu bekommen, war zunächst deutlich schwieriger. Dass Primaten, speziell Schimpansen und Gorillas, zu den wichtigsten Reservoiren der Vorläuferviren von HIV gehören, hat die Sache nicht vereinfacht. Diese Tiere sind akut bedroht, denen darf man nicht einfach Blut abnehmen. Die Feldforschung hat erst in den letzten Jahren gelernt, aus Urin und Kot dieser Primaten die Virusgenome zuverlässig zu amplifizieren. Dadurch wurde vieles einfacher. DocCheck: HIV ist kein monolithisches Virus. Es gibt das Epidemievirus HIV 1 und das in Westafrika endemisch auftretende HIV 2. Innerhalb dieser beiden Virusvarianten gibt es unterschiedliche Gruppen und diverse Subtypen. Wie oft sind HI-Viren tatsächlich auf den Menschen übergesprungen? Kirchhoff: Wenn wir uns auf HIV 1 beschränken, haben wir vier Gruppen: M, N, O und P. Diese vier Gruppen sind unabhängig voneinander auf den Menschen übertragen worden. Vier Übertritte sind also das Minimum. In Wirklichkeit dürften es mehr gewesen sein: Wir sehen ja nur das, was erfolgreich war. DocCheck: Wenn wir über die globale HIV-Pandemie sprechen, dann reden wir von HIV 1 Gruppe M, das etwa 95 Prozent aller Infektionen ausmacht. Wann trat HIV 1 Gruppe M erstmals im Menschen auf? Kirchhoff: Die Ausbreitung von HIV 1 Gruppe M im Menschen begann Anfang des 20. Jahrhunderts. Über den genauen Zeitpunkt wird diskutiert. Ich halte den Zeitraum zwischen 1920 und 1940 für realistisch. Manche meinen, dass es auch etwas früher gewesen sein kann. Was wir ziemlich sicher sagen können ist, dass es eine einzelne Übertragung von einem Schimpansen auf einen Menschen war, die am Anfang der Pandemie stand. DocCheck: Dass Wissenschaftler diesen Zeitraum überhaupt so weit eingrenzen können, hatte unter anderem mit zwei alten Gewebeproben aus den Jahren 1959 und 1960 zu tun, die an einem Krankenhaus in Kinshasa eingelagert waren und die sich im Nachhinein als HIV-positiv herausstellten. Warum waren diese beiden Gewebeproben, ZR59 und DRC60, so wichtig? Kirchhoff: Sie ermöglichten eine Analyse der genetischen Variabilität des Virus zu diesem frühen Zeitpunkt. Seither können wir beweisen, dass HIV 1 Gruppe M im Menschen schon um 1960 herum sehr divergent war. Dies war auch ein weiterer Hinweis darauf, dass Theorien wonach HIV in den 50er oder 60er Jahren im Rahmen von Impfkampagnen quasi iatrogen von Menschenaffen auf den Menschen übertragen worden seien, nicht länger haltbar sind. DocCheck: Von anderen Theorien, wonach HIV in den 70er Jahren im Rahmen irgendwelcher geheimdienstlicher Aktivitäten frei wurde, ganz zu schweigen… Kirchhoff: Man muss fairerweise sagen, dass die meisten Wissenschaftler, die sich intensiv mit HIV beschäftigt haben, schon vor der Entdeckung von ZR59 und DRC60 nicht an solche Theorien geglaubt haben. Es sprach einiges dafür, dass HIV 1 M deutlich älter ist als allgemein angenommen. Aber die beiden Gewebeproben waren trotzdem enorm wichtig. Denn sie lieferten letztlich konkrete Hinweise auf einen älteren Ursprung. Rein theoretisch könnte das Virus natürlich auch mehrfach iatrogen von Primaten übertragen worden sein. Das würde die Variabilität auch erklären. DocCheck: Wodurch wurde HIV 1 überhaupt so gefährlich für den Menschen? Verwandte dieses Virus wurden ja auch in anderen Primaten gefunden, die nicht alle an AIDS erkranken. Kirchhoff: Bei solchen Veränderungen gibt es meistens mehrere Faktoren, die mit hinein spielen. Wir wissen heute, dass Menschen nicht die einzigen Primaten sind, die AIDS entwickeln. Auch Schimpansen, die mit Affenimmundefizienzviren infiziert sind, können AIDS entwickeln. Unsere Gruppe konnte vor einigen Jahren zeigen, dass HIV-1 und seinen Vorläufern aus Schimpansen, Gorillas und manchen Meerkatzenarten, nicht aber anderen Immundefizienzviren, durch eine Veränderung im so genannten Nef-Protein die Fähigkeit abhandengekommen ist, die Aktivierung infizierter T-Zellen zu blockieren. Das könnte zu der chronischen Hyperaktivierung des Immunsystems beitragen, die die Entwicklung der Immundefizienz vorantreibt. DocCheck: Sie hatten gesagt, dass HIV 1 mehrfach auf den Menschen übergesprungen sei. Warum war denn nun die Gruppe M nach ihrem "Sprung" so enorm erfolgreich – erfolgreich aus Sicht des Virus natürlich? Kirchhoff: Zu diesem Punkt haben wir in den letzten Jahren sehr viel gearbeitet. Tatsächlich breitet sich HIV 1 Gruppe M sehr viel effektiver aus als alle anderen Gruppen von HIV. Wir haben seit den 80er Jahren ungefähr 60 Millionen Infizierte. Bei allen anderen HIV-Gruppen zusammen sind es nur einige 10000. Ein Faktor, der einen Erklärungsansatz liefert, ist das Protein Tetherin. Es wird von T-Zellen an der Oberfläche exprimiert und stellt einen spezifischen Verteidigungsmechanismus gegen Retroviren dar. Die pandemischen HIV 1 M Viren sind die einzigen HI-Viren, die diesen Faktor im Menschen effektiv ausschalten können. DocCheck: Inwiefern könnte das eine rasante Ausbreitung erklären? Kirchhoff: Die Ausschaltung von Tetherin bewirkt, dass vermehrt Viren von infizierten Zellen freigesetzt werden. Unsere Hypothese ist somit, dass die Menge an Virus in den Genitalflüssigkeiten bei Menschen, die mit HIV 1 M infiziert sind, höher ist als bei anderen HIV-Gruppen. Direkt nachgewiesen haben wir das aber noch nicht, unter anderem deswegen, weil die anderen HIV-Gruppen so selten sind, dass es gar nicht leicht ist, an entsprechende Spermaproben zu kommen um die Viruslasten vergleichen zu können. DocCheck: Wie erklärt man sich denn die mehreren Jahrzehnte, die zwischen der Übertragung von HIV1 M auf den Menschen und dem Auftreten der globalen Pandemie lagen? Kirchhoff: Zunächst war die Zahl der Infizierten natürlich relativ gering. Weiterhin traten die ersten Infektionen in Afrika auf. In diesem Land gibt es viele andere Probleme gesundheitlicher und anderer Art. Auch sind die Symptome von AIDS sehr heterogen. Somit wurde das Virus erst entdeckt, als zu Beginn der 80er Jahre die ersten Fälle in den USA auftraten obwohl HIV-1 zu diesem Zeitpunkt in Afrika bereits weit verbreitet war. DocCheck: Was halten Sie derzeit auf dem HIV-Gebiet für das wichtigste Thema? Kirchhoff: In Ländern, in denen die HIV-Infektion gut behandelt wird, ist sicherlich die mögliche Eradikation des Virus das derzeit spannendste Thema. Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, dass global betrachtet immer noch die Mehrheit der Infizierten nicht behandelt wird. Pro Jahr sterben etwa zwei Millionen Menschen an AIDS. Wir haben zwar über 30 wirksame Therapeutika. Aber die helfen nur, wenn wir behandeln. Dass dadurch auch die Ausbreitung des Virus eingedämmt wird, kommt dazu. DocCheck: Wie optimistisch sind Sie mit Blick auf die Heilung oder "Eradikation" der HIV-Infektion? Kirchhoff: Vor ein paar Jahren war ich da ehrlich gesagt ziemlich pessimistisch. Mittlerweile sieht das etwas anders aus. Es gibt den so genannten Berliner HIV-Patienten, bei dem jetzt mehrere Jahre nach einer Knochenmarktransplantation immer noch kein Virus nachweisbar ist. Der scheint tatsächlich geheilt zu sein. Man liegt allerdings häufig falsch, wenn man Erkenntnisse aus Einzelfällen einfach extrapoliert. Tatsache ist: Wir können heute die Virusreplikation mit Medikamenten effektiv unterdrücken. Es scheint aber latente Reservoire zu geben, denen selbst eine jahrelange Therapie nichts anhaben kann. In welchen Geweben diese Reservoire liegen, wissen wir nicht. Es ist denkbar, dass die Infektion bei manchen Patienten auf das blutbildende System beschränkt ist, bei anderen aber beispielsweise auch die Zellen im Gehirn betroffen sind. DocCheck: Wenn wir das alles im Kopf behalten: Wie könnten potenziell erfolgreiche Behandlungsschemata für eine Eradikation aussehen? Kirchhoff: Nach aktuellem Kenntnisstand reicht eine reine Intensivierung der Therapie nicht aus. Zusätzlich muss man versuchen, die "schlafenden" infizierten Zellen zu aktivieren, sodass sie anfangen, Virus zu produzieren. Damit werden diese Zellen nämlich für das Immunsystem angreifbar. Gleichzeitig sorgt die antiretrovirale Kombinationstherapie dafür, dass die frei werdenden Viren keine neuen Zellen infizieren. * Prof. Frank Kirchhoff, Direktor des Instituts für Molekulare Virologie der Universität Ulm, wurde vor Kurzem für seine AIDS-Forschungen mit dem Ernst Schering-Preis 2013 ausgezeichnet.